Wien 1900: Zwischen Alt und Neu

20. November 2012

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Mit der Schausammlung Wien 1900 richtet das MAK den Blick auf eine der spannendsten Entwicklungsphasen dieser Stadt. Mit mehr als zwei Millionen EinwohnerInnen trat Wien damals in Konkurrenz zu den europäischen Metropolen Berlin, London und Paris und entwickelte sich zum kulturellen Zentrum Mitteleuropas.

Gleichzeitig stand die Stadt vor gewaltigen politischen und sozialen Herausforderungen. Zehntausende von ZuwandererInnen drängten nach Wien und ließen sich meist außerhalb des Linienwalls nieder, der als Steuerschranke die Stadt von den Vororten trennte. An ihren Toren wurde seit 1829 die Verzehrungssteuer für Lebensmittel eingehoben, die für die Stadt bestimmt waren. Wer wenig Geld zur Verfügung hatte, lebte in den Vorstädten, wie die Arbeiterfamilien, die meist in kleinen Wohnungen riesiger Wohnblöcke Unterschlupf fanden. Diese wurden rasch zu Elendsvierteln, denn Kindersterblichkeit und Tuberkulose (die „Wiener Krankheit“) hatten in den „hoffnungslos überbelegten Zinskasernen“ freie Bahn, wie Günter Düriegl in seinem Beitrag für den Katalog der Ausstellung Traum und Wirklichkeit – Wien 1870–1930 (1985) schildert.

Die Abschaffung der Verzehrungssteuer 1889 und das vom Kaiser 1890 unterzeichnete Gesetz zur Eingemeindung der Vororte bildeten den legistischen Rahmen für einen Wachstumssprung, der die Fläche der Stadt auf einen Schlag verdreifachte und einen rasanten Anstieg der Bevölkerungszahl verursachte.
Aber nicht nur Bauern und Bäuerinnen oder ArbeiterInnen zog es nach Wien. Die Stadt entwickelte sich auch in künstlerischer und wissenschaftlicher Hinsicht zu einem europäischen Mittelpunkt und lockte MalerInnen, SchriftstellerInnen, MusikerInnen, ArchitektInnen u. a. an. Diese sorgten im Spannungsfeld einer untergehenden Epoche und dem Beginn der Moderne für einen Aufschwung, der auf uns im Rückblick große Faszination ausübt.

Foto: © MAK; Josef Hoffmann, Foto: © MAK; MAK, Foto: © MAK

Die Komplexität der Stadt erinnert ein wenig an unsere heutige Situation. Jean-François Lyotard erkennt im Wien um 1900 Prozesse, die erst hundert Jahre später ihre volle Wirkung entfaltet haben. Im Postmodernen Wissen spricht er von der „hybriden Kultur“ der Stadt und einem komplexen kulturellen System, das ganz Zentraleuropa überzieht. Wer sich mit der Geschichte Wiens an der Schnittstelle von 19. und 20. Jahrhundert beschäftigt, blickt also nicht nur einfach zurück in die Vergangenheit, sondern sieht sich mit Entwicklungen konfrontiert, die uns heute – aber auch zukünftig – beschäftigen.

Mit diesem für das Haus zentralen Museumsbereich rückt das MAK das Thema Wien um 1900 in den Mittelpunkt seiner Aktivitäten und beleuchtet damit wohl eines der interessantesten Kapitel dieser Stadt.

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