Biennale di Venezia 2024 – „Warum sich abgrenzen in der idealen Welt der Kunst?“

30. April 2024

Outside MAK

Bärbel Vischer, Kustodin MAK Sammlung Gegenwartskunst

Von Begegnungen im Nachtzug und höchst heterogenen Zugängen zum Thema Foreigners Everywhere: Bärbel Vischer, Kuratorin und Kustodin MAK Sammlung Gegenwartskunst, über ihre Eindrücke bei der diesjährigen Kunstbiennale in Venedig.

Nach drei spannenden Tagen in Venedig bei Preview und Eröffnung der 60. Internationalen Kunstausstellung La Biennale di Venezia 2024 treffe ich im Nachtzug nach Wien drei Frauen, ursprünglich aus der Ukraine. Wir teilen uns ein Abteil im Wagon 401, nachdem die OEBB wie auch schon bei der Hinfahrt kurzfristig alle Liegeplätze durch Sitzplätze ersetzt hatte. Eine schlaflose Nacht vor Augen, kommen wir ins Gespräch. Befreundet mit der russisch-österreichischen Künstlerin Anna Jermolaewa, die 2024 den Österreichischen Pavillon in den Giardini bespielt und 2022 eine Einzelausstellung im MAK hatte, sind sie eigens zur Eröffnung angereist. Sie hatten Jermolaewa und ihren Partner, den Künstler Scott Evans kennengelernt, wie die beiden unmittelbar nach dem Beginn des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine im Februar 2022 vielen ukrainischen Flüchtlingen halfen, in Wien gut anzukommen, nachdem sie teilweise direkt an der ukrainischen Grenze abgeholt hatten.

Claire Fontaine Foreigners Everywhere (Self- portrait), Stranieri Ovunque (Autoritratto), 2024 Double sided, wall or window mounted neon, framework, transformers, cables and fittings Dimensions and colours variable 60th International Art Exhibition – La Biennale di Venezia, Stranieri Ovunque – Foreigners Everywhere Photo by: _AVZ: Andrea Avezzù _JS: Jacopo Salvi _MZO: Marco Zorzanello _MDM: Matteo de Mayda Courtesy: La Biennale di Venezia

Claire Fontaine, Foreigners Everywhere (Selfportrait), Stranieri Ovunque (Autoritratto), 202460th International Art Exhibition – La Biennale di Venezia, Stranieri Ovunque – Foreigners EverywherePhoto by: Marco Zorzanello Courtesy: La Biennale di Venezia

1970 in Leningrad geboren, das nach dem Zerfall der Sowjetunion wieder in St. Petersburg umbenannt wurde, flüchtete Jermolaewa selbst aus politischen Gründen im Mai 1989 nach Österreich. In ihrem Beitrag für Venedig erreicht sie es mit poetischen Mitteln, im Brennpunkt unserer von Kriegen und Krisen geschüttelten Zeit ein Bild des humanistischen Empfindens zu zeichnen. Im Mittelpunkt ihres eigens für Venedig konzipierten Videos steht die nach Österreich geflüchtete ukrainische Balletttänzerin Oksana Serheieva, die Schwanensee tanzt und im Österreichischen Pavillon auch mehrmals täglich live auftritt. Auch in diese Arbeit webt Jermolaewa eine historische Referenz ein, denn Schwanensee wurde in der Sowjetunion im Staatsfernsehen in Endloseschleife gesendet und für Propagandazwecke instrumentalisiert, so die Künstlerin.

Der Krieg in der Ukraine und die Erfahrungen von Flüchtlingen ist Thema im benachbarten Polnischen Pavillon, der nach der jüngsten politischen Wende in Polen kurzfristig, in einem Zeitraum von drei Monaten, neu konzipiert wurde. Die Videoinstallation Repeat after Me II (2022/2024) des ukrainischen Künstler*innenkollektivs Open Group, schafft mit zwei korrespondierenden Videos unmittelbar eine partizipatorische Atmosphäre. Der Raum wird eingenommen von Stimmen von Ukrainer*innen in den ersten Wochen des Krieges als noch Hoffnung auf ein rasches Ende bestand und 2024 mit Ukrainer*innen, die in andere Länder geflüchtet sind. Sie alle wurden im Rahmen von subtilen Portraitaufnahmen gebeten, Geräusche von Waffen und Bomben nachzuahmen, die auf ihren persönlichen Erfahrungen im Krieg basieren.

Pavilion of POLAND Repeat after Me II 60th International Art Exhibition - La Biennale di Venezia Photo by: _AVZ: Andrea Avezzù _JS: Jacopo Salvi _MZO: Marco Zorzanello _MDM: Matteo de Mayda Courtesy: La Biennale di Venezia

Pavilion of POLAND, Repeat after Me II60th International Art Exhibition – La Biennale di VeneziaPhoto by: Matteo de MaydaCourtesy: La Biennale di Venezia

Der ägyptische Pavillon ist auf Revolution eingestellt mit einem Video von Wael Shawky. Drama 1882, einer Neuproduktion, die der Künstler auch finanziell selbst verantworten musste. Mit insgesamt 400 Schauspieler*innen und Statist*innen entfaltet sich ein Bühnenbild, das von dem Genre der Miniaturmalerei ausgehend die Urabi Revolution thematisiert, als sich der ägyptische Offizier Ahmed Urabi gegen die britische Kolonialmacht auflehnte. Zeitgleich ist im Palazzo Grimani Tribuna als Satellitenprogramm Shawkys Film I Am Hymns of the New Temples zu sehen, der als Marionettentheater inszeniert wurde und in Zusammenarbeit mit dem Archaeological Park Pompei entstanden ist. Basierend auf Archivmaterial entwickelte Shawky hier eine Erzählung rund um die Verbreitung von Mythen und ihre vielfältigen Quellen, was die Pluralität von Geschichte widerspiegelt.

Pavilion of EGYPT Drama 1882 - دراما ١٨٨٢ 60th International Art Exhibition - La Biennale di Venezia Photo by: _AVZ: Andrea Avezzù _JS: Jacopo Salvi _MZO: Marco Zorzanello _MDM: Matteo de Mayda Courtesy: La Biennale di Venezia

Pavilion of EGYPT, Drama 1882 – دراما ١٨٨٢60th International Art Exhibition – La Biennale di VeneziaPhoto by: Matteo de MaydaCourtesy: La Biennale di Venezia

Im Palazzo Canal, Dorsoduro, befindet sich der nigerianische Pavillon mit der inspirativen Ausstellung Nigeria Imaginary. Zu den teilnehmenden Künstler*innen zählen Tunji Adeniyi-Jones, Ndidi Dike, Onyeka Igwe, Toyin Ojih Odutola, Abraham Oghobase, Precious Okoyomon, Yinka Shonibare und Fatimah Tuggar, die Fragestellungen kolonialer Strukturen, der zeitgenössischen nigerianischen Gesellschaft und ihrer Diaspora ausloten. Tuggar ist wie viele andere Künstler*innen während der Eröffnungstage vor Ort und erklärt ihren Umgang mit dem Material des Flaschenkürbisses, das nicht nur in den Traditionen und Ritualen verankert ist, sondern auch als Alternative zu Plastik für Aufbewahrung und Transport Verwendung findet.

Kipwani Kiwanga, deren Arbeiten derzeit im MAK im Rahmen der aktuellen Ausstellung HARD/SOFT. Textil und Keramik in der zeitgenössischen Kunst bis 20. Mai 2024 zu sehen sind, hat den Canadischen Pavillon in ein abstraktes Glasperlenspiel aus farbigen in Murano hergestellten Perlen gehüllt, das sich in den Innenraum fortsetzt. Diese Perlen waren Handelsware, die von Venedig aus in die ganze Welt geschickt wurden und in verschiedenen Kulturen ihren Imprint fanden. Auch in ihren Skulpturen untersucht Kiwanga kulturelle und soziale Praktiken von Gemeinschaften. Einem existentialistischen Thema verschreib sich das Künstlerduo Pakui Hardware für den Litauischen Pavillon und entwarf in der Chiesa di Sant‘ Antonin ein Szenario aus amorphen Körpern, die sich fieberhaft einer „Entzündung“ nähern – Inflammation lautet der Ausstellungstitel – des Körpers oder unseres Planetensystems.

Die von Adriano Pedrosa kuratierte 60. Internationale Kunstausstellung La Biennale di Venezia 2024 untersucht mit dem Titel Foreigners Everywhere, der einer gleichnamigen Neoninstallation von Claire Fontaine entlehnt ist, die im Arsenale ihre Strahlkraft entwickelt, den Begriff des „Fremden“ und „Anderen“, was auf die Bruchlinien in der globalen Gesellschaft abzielt und viele Künstler*innen aus dem globalen Süden zeigt. Gleichzeitig wird das Fremdsein hier durch die Perspektive, sprich den Kontext, interpretiert. Dennoch verheddert sich Pedrosa in seinem Ausstellungsparcours darin, indigene Gruppen, Art Brut-Künstler*innen und queere Personen – auf den Titel bezogen – abstrakt als „Fremde“ oder „Andere“ zu definieren. Warum sich abgrenzen in der idealen Welt der Kunst?

Kommentare

  • Martin Omasits sagt:

    Sehr geehrte Fr. Vischer.
    In der Tat, der eigene und sehr raumgreifende Ausstellungsteil im Arsenal, den der Kurator einer subjektiv bunt zusammengewürfelten Gruppe „Benachteiligter“ widmete (was haben Flüchtlinge, denen es ums Leben geht, mit queeren Personen zu tun, die sich in ihrer Persönlichkeit entfalten wollen, und was sollen Homosexuelle in dieser Gruppe?) steht wie ein Fremdkörper oder böse gesagt wie ein Reservat in der Biennale und betont genau das, was er eigentlich verhindern möchte,
    Ich denke, die Kunst sollte kein Mascherl erhalten und es sollte völlig egal sein, ob der Künstler oder die Künstlerin Mann oder Frau sind, schwarz oder gelb, krank oder gesund, Kopffüssler oder Lichtesser. Was auch immer. Sie soll uns, in jeglicher Richtung, berühren und uns über unsere Grenzen schauen lassen.
    Liebe Grüße
    Martin Omasits
    Nachtrag: Wir hatten Liegeplätze und die Biennale-Außenstellen der „dritten Welt“ waren verdammt gut (z. B. das Zahnbürsten und – cremetuben-Monster oder der Reiseladen aus den VAE) und wir hatten keine Ahnung von der Geschlechtsidentität der Künstlertruppe.

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