15. Dezember 2025
Vanessa Joan Müller
15. Dezember 2025
Vanessa Joan Müller
Im Rahmen der Ausstellung TURNING PAGES. Künstler*innenbücher der Gegenwart zeigte Kuratorin und Autorin Vanessa Joan Müller in ihrem Vortrag More Than Just Words – Experimentelle Dichtung und bildende Kunst am 9. November 2025, wie sich experimentelle Poesie vom Buch in den Raum verlagert. Sie erläuterte, wie Sprache sich dabei von ihrer gewohnten Sinnstiftung löst und Buchstaben wie Wörter neue Bedeutungen annehmen. Der folgende Blog-Beitrag ist eine leicht überarbeitete Version des Vortrags.

Vanessa Joan Müller, 9. November 2025 im MAK
© MAK/Kathrin Pokorny-Nagel

Vanessa Joan Müller, 9. November 2025 im MAK
© MAK/Kathrin Pokorny-Nagel

Vanessa Joan Müller, 9. November 2025 im MAK
© MAK/Kathrin Pokorny-Nagel
Das Buch, auch das Künstler*innenbuch, ist zunächst einmal ein Speichermedium für Text und/oder Bild. Es zeichnet sich durch die Art der Gestaltung dieser Texte und Bilder aus, ihr Arrangement, die gewählte Typografie. Bereits existierendes Material, also Texte und Bilder, werden in ein Layout gebracht, das Konventionen folgen, das diese aber auch ignorieren kann.
Es gibt allerdings eine Textsorte, die weit weniger flexibel ist als andere, weil sie ihr Erscheinen auf der Buchseite, auf dem Blatt Papier zu einem großen Teil bereits in sich trägt. Dieser Sonderfall ist das Gedicht. In seiner klassischen Version, die uns hier weniger interessiert, gliedert es sich in Verse und Strophen, in seiner experimentellen Version hingegen thematisiert es im Arrangement seiner Zeilen und Buchstaben auch jenes Feld, auf dem es sich verortet: die Seite mit ihrem weißen Untergrund als Teil der Bedeutungskonstitution durch die Sprache. Dieser inhaltlich aufgeladene Weißraum sorgt für eine produktive Unschärfe zwischen Zeichen und Sinn, Signifikat und Signifikant, die bis zur vollständigen Entkoppelung und Nicht-Diskursivität reichen kann. Übrig bleibt dann ein Negativraum, der sich suggestiv mit Bedeutung vollsaugen kann.
1967 schreibt Franz Mon, einer der Protagonisten der Konkreten Dichtung, in seinem Text „zur poesie der fläche“ „Geschriebenes dient uns am besten, je weniger seine optische Dimension ins Auge tritt. Von seiner Anordnung auf der Fläche wird allenfalls harmonische Unbemerkbarkeit verlangt.“[1] Und er führt aus: „wie die fläche dem text äußerlich ist, ist ihm die schrift sekundär.“[2] Das Gedicht hingegen tritt aus dieser Voraussetzungslosigkeit heraus; die Fläche der Buchseite wird zum bewussten Ort und lädt sich positiv auf. Das Weiß der Buchseite wird Teil des Textes und bringt seine Bedeutungsmomente – Zentrum, Rand, oben, unten, rechts und links – aktiv ein. Letztlich wird der Text zum abstrakten Bild, das genauso Teil der Bedeutungsproduktion ist wie das, was der Text selbst artikuliert. Dieser gleichsam Bild gewordene Text besetzt seit den 1960er Jahren ein weites Feld der künstlerischen Poesie, als Bildgedichte aller Art das Poetische an die konzeptuelle Kunst anzuschließen versuchen.
Bevor wir einen recht kursorischen Streifzug durch das unternehmen, was hier etwas unscharf unter „Experimentelle Poesie“ zusammengefasst wird, steht zunächst jedoch die Frage im Raum, was damit nicht nur in der bildenden Kunst überhaupt gemeint ist. Natürlich gibt es das Indiz der frei arrangierten Wörter; seit der Moderne ist das Poetische jedoch wesentlich weiter gefasst und bezieht sich ganz grundsätzlich auf eine Sprache, die über das Kommunikative hinaus ihre eigene formale Struktur, ihre klangliche Dimension oder ihre Erscheinung als Schrift auf dem Blatt thematisiert, die folglich aktiv über ihre semantische wie auch ästhetische Dimension nachdenkt. Eine Sprache, die Bild wird oder performativ in den Raum strebt, die sich der unmittelbaren Lesbarkeit entzieht oder gar eine neue Sprache erfindet. Diese poetische Sprachfunktion artikuliert sich im alltäglichen Sprachgebrauch, aber auch in Werken im Grenzbereich zwischen Text und Bild, Text und Performance.

MAK Ausstellungsansicht, 2025
TURNING PAGES. Künstler*innenbücher der Gegenwart
Zentraler Raum MAK Design Lab
© MAK/Christian Mendez
Für den Linguisten Roman Jakobson, der diese poetische Sprachfunktion erkannt und benannt und in sein epochales Kommunikationsmodell der Sprache aufgenommen hat, zeichnet sich diese dadurch aus, dass sich die sprachliche Botschaft durch verschiedene ästhetisch-stilistische und ästhetisch-rhetorische Mittel zum Gegenstand der Reflexion über die Sprache selbst und ihre Inhalte macht. Im Mittelpunkt steht dabei das Sprachzeichen an sich, das eine von der alltäglichen Kommunikation abweichende formale Struktur aufweist, etwa durch die Verwendung rhetorischer Mittel oder eine auffällige syntaktische Struktur. Für Jakobson besteht das Besondere der „Poetizität“ darin, dass sie „das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination“[3] überträgt: Was üblicherweise nach bestimmten Satzbauplänen, deren Bedeutung mehr oder minder festgelegt ist, zwecks Verständigung formuliert oder verbal ausgedrückt wird, wird bei der poetischen Sprachverwendung zugunsten neuer, überraschender Verknüpfungen höflich ignoriert. Was er nicht nennt, weil ihn Sprache am Ende doch vor allem als Kommunikationsmodell interessiert, ist die ästhetisch-visuelle Ebene, auf der sich das Wort als Geschriebenes, Gedrucktes in seiner Typografie präsentiert. Wenn die optische Ebene des Textes sich an die Seite der phonetischen und semantischen Ebene stellt – als Ergänzung, Erweiterung, als Spannung oder Negation –, ist das für unseren Kontext jedoch von wesentlicher Bedeutung.
Ein frühes Beispiel, das immer wieder als initiales Werk dieser grundsätzlichen Verschiebung vom Wort zum Bild genannt wird und bis in die Kunst der Gegenwart fast schon Kultstatus besitzt, ist Stéphane Mallarmés Gedicht „Un coup de dés jamais n’abolira le hasard“ aus dem Jahr 1897. Es ist ein Höhepunkt der symbolistischen Dichtung, vor allem aber eine Aktivierung des Wortes in seiner visuellen Gestalt. Einzelne Verse werden über mehrere Seiten hinweg in die Länge gezogen, der Text des Gedichts damit stark verräumlicht. Durch die Unregelmäßigkeiten und die Zerstreuung der Verse nehmen diese Bildcharakter an, und auch der sie umgebende Weißraum der Seite wird stark semantisiert.
Mallarmé, ganz der radikalen Moderne verpflichtet, wenn nicht sogar Proto-Strukturalist, war der Ansicht, der Dichter ordne sein Sprechen der Sprache vollkommen unter, sodass diese es ist, die sich selbst zum Reden bringt. Diese Sprache betont den Raum, der die Beziehungen innerhalb der Wörter und ihre Entfaltung auf der Buchseite erst ermöglicht. „Un coup de dés“ verleiht dieser Auffassung paradigmatischen Ausdruck, wenn der Blick nicht allein von links nach rechts entlang der Buchstaben wandert, sondern sich auf die Seite als solche richtet, um erst in einem zweiten Schritt, quasi einem visuellen Impuls folgend, zu lesen zu beginnen. Mallarmé verwandte viel Überlegung auf die Auswahl der Typografien sowie die unterschiedlichen Größen des Schriftsatzes. Visuell erzielt er damit einen perspektivischen Effekt, während sich auf der semantischen Ebene die Zeilen je nach Größe mit Bedeutung aufladen. Neben ihrer horizontalen wie vertikalen Ausdehnung erlangen die Seiten aber auch eine imaginäre dritte Dimension, die die materielle Ebene des Buches verlässt, und das ist der weiße Leerraum um die Buchstaben herum. Mit diesem Weißraum, dieser produktiven Leere schreibt sich Mallarmé letztlich nicht nur in die Literatur-, sondern auch die Kunstgeschichte ein.
Marcel Broodthaers nämlich, selbst Dichter, der dann Künstler geworden ist, hat sich 1969 Mallarmés Gedicht angenommen und es in der Überschreibung der Wörter mit dem Negativraum der Farbe Schwarz in eine abstrakte grafische Oberfläche verwandelt. Er wählte bewusst eine Version, in dem die Typografie bereits gebändigt und die Buchstabengrößen homogenisiert worden waren, und veröffentlichte daran anschließend eine eigene Buchedition. In dieser entfalten sich nicht mehr die Wörter auf der Fläche der Seite, sondern allein schwarze Linien und Balken, je nach der Schriftgröße und Länge der Zeilen des Originals. Broodthaers löschte die Wörter quasi aus und ersetzt sie durch das Schwarz der Negation. Der Vers wurde zur abstrakten Linie und das Weiß der Seite endgültig zu einem kompositorischen Element. Und während Mallarmé auf das Cover seines Buches die Kategorisierung „Poème“ druckte, setzt Broodthaers an diese Stelle das Wort „Image“.
Bereits in seinem letzten Gedichtband, bevor er sich entschloss, Künstler zu werden, arbeitete Broodthaers mit dem Prinzip der partiellen Überlagerung der Schrift durch die farbige Fläche: Pense-Bête (1964) zeichnet sich durch gezielte Interventionen in den Text aus, der das Lesen irritiert, wenn nicht vollständig blockiert zugunsten der Betrachtung der Seite als Text-Bild-Komposition. Die letzten Exemplare dieses Buches erkor Broodthaers programmatisch zum Material seines ersten plastischen Werks und machte sie auf diese Weise vollständig unlesbar. Auch das zeigt: Die Kraft der Negationen bildet oft das Ausgangsmaterial solcher spätmoderner Gedicht-Dekonstruktionen, wie auch die zeitgleich entstehende poststrukturalistische Theorie vielfach den Nullpunkt der Literatur, den Tod des Autors und die Überlagerung des Geschriebenen durch den interpretierenden Akt des Lesens als konstruktive Re-Lektüre thematisiert. Der Text ist fortan das, was man aus ihm macht.
Von Cerith Wyn Evans gibt es eine weitere Version von Mallarmés Werk, gleichsam eine Hommage an ihn und Broodthaers (Un coup de dés jamais n’abolira le hasard, 2009). Überhaupt gibt es eine Menge Variationen, die den Stellenwert dieser frei flottierenden Poetik unterstreichen. Wyn Evans geht jedoch konsequent einen Schritt weiter und löst die schwarzen Balken aus dem Buch heraus, macht die Seiten mit ihren ausgestanzten Flächen also zum durchlässigen Objekt, das folgerichtig das Buch verlässt und sich als gerahmte Einzelseite präsentiert. Cerith Wyn Evans führt damit die Emanzipation der Sprache fort, die nicht mehr länger nur Repräsentantin externer Signifikate sein will, sondern Schriftzeichen mit Autonomieanspruch. Das Auslöschen der Buchstaben, der Wörter und Sätze im Durchstreichen oder Ausschneiden öffnet auch hier einen neuen Raum der Potenzialität – die Poesie setzt auf den Negativraum und wird zur Erneuerung des Unbestimmten. So schafft sie sich neue Gestaltungsräume jenseits logozentrischer Zusammenhänge, die es selbst noch in den avantgardistischeren Spielarten der sprachbasierten Dichtung gibt.

MAK Ausstellungsansicht, 2025
TURNING PAGES. Künstler*innenbücher der Gegenwart
Zentraler Raum MAK Design Lab
© MAK/Christian Mendez
Ist ein solcher Nullpunkt erst einmal gesetzt, öffnen sich viele neue Möglichkeiten. Die 1960er und 1970er Jahre sind voll von experimenteller Dichtung, in der die bildhafte Qualität der Sprache ausgelotet wird und sich autonomisiert – allen voran in der sogenannten Konkreten Poesie, die Typografie und Bedeutung entkoppelt, gegeneinander ausspielt oder als redundantes, auf sich selbst verweisendes System inszeniert. Prägnante Beispiele für die poetische Sprachfunktion aus unseren Breitengraden liefert die Wiener Gruppe und hier insbesondere Gerhard Rühm, der in den frühen 1950er Jahren mit Lautgedichten begann, in denen die klangliche Expression als sprachliche Geste isoliert dargestellt wurde. Solche transkribierten Klanggesten konzeptualisierten die Gattung Gedicht und reduzierten sie auf die Vokalbögen. Gleichzeitig suchte Rühm aber auch in anderer Richtung danach, die sprachliche Expressivität im Nebeneinander einander fremder, wie zufällig kombinierter Wörter zu testen und darüber zumindest einen Teilaspekt dessen zu realisieren, was früher einmal Gedicht hieß. Das einzelne Wort besitzt dann noch immer das semantische und phonetische Potenzial, das es in der klassischen Lyrik hatte, wird jedoch zur reinen Oberfläche, quasi entfremdet von sich selbst. Auch wenn Rühm, wie viele andere, „Textbilder“ arrangiert, Anordnungen von Buchstaben und Wörtern auf der Seite präsentiert, changieren das Geschriebene und Visuelle, ohne dass damit Eindeutigkeit erzielt werden soll.
Es gibt unzählige solcher Typogramme und optischen Gedichte, oftmals mit der Schreibmaschine produzierte Experimente oder collagierte Fragmente aus Zeitungen und Zeitschriften, die als Papierobjekte, oft gerahmt, Werkform annehmen. Es ist aber auch eine Kunst, die das Buch verlässt, um auf anderen Kanälen als denen der klassisch bildenden Kunst zu zirkulieren, und deshalb eng mit der Mail Art, dem informellen Austausch, auch und gerade in den Ländern des ehemaligen Ostblocks, zu tun hat. [4] Eine*r der vielen großartigen Künstler*innen dieser Strömung ist der in Brno lebende Jiří Valoch, der die Wechselwirkung von Raum und Sprache mit minimalistischem Vokabular variantenreich untersucht hat. Seine in kleiner Auflage selbst produzierten Hefte und in speziellen Kuverts verschickten visuellen Poeme dienten dem transnationalen Austausch während des Kalten Krieges jenseits staatlicher Kontrolle – als subversives Kommunikationsobjekt, politisiert trotz seiner formalen Abstraktion.
In den USA entstanden in den späten 1960er Jahren, parallel zur Konzeptuellen Kunst, ebenfalls typografische Gedichte oder abstrakt Bildhaftes aus der Schreibmaschine. Ein wichtiges Forum bot das Magazin 0 to 9, das zwischen 1967 und 1969 von Vito Acconci, auch er ein großer Fan von Mallarmé, und seiner Schwägerin Bernadette Mayer im Eigenverlag herausgegeben wurde. Ursprünglich in preiswerten, vervielfältigten und gehefteten Ausgaben erschienen, bestand es hauptsächlich aus sprach- oder ideenbasierten Beiträgen von Künstler*innen und Dichter*innen – semi-schriftlichen Operationen im poetischen Raum, die auf die referenzielle Funktion der Sprache verzichteten. Lesbarkeit war kein Kriterium, und auch die teils anarchische Bildhaftigkeit der Buchstaben lässt die zeitgleichen konkreten Wort-Bild-Kompositionen der europäischen Avantgarde vergleichsweise konventionell aussehen. Das liegt auch daran, dass diese sich noch stärker im literarischen Feld verorteten. Acconci hingegen zielte bewusst auf einen neuen, quasi entmaterialisierten Do-it-yourself-Ausstellungskontext jenseits des bestehenden Galerie- und Zeitschriftenwesens und veröffentlichte Werke unter anderem von Sol LeWitt, Robert Smithson, Robert Barry, John Giorno, Dan Graham, Lee Lozano, Adrian Piper, Yvonne Rainer, Lawrence Weiner und Steve Paxton.
Was fällt an dieser Liste auf? Es sind in erste Linie männliche Künstler, die hier aktiv werden, und die wenigen Künstlerinnen kommen aus dem Bereich der Performance. Im Bereich der europäischen Visuellen, Konkreten Poesie finden sich ebenfalls wenige Frauen, zeitgenössische Anthologien kommen teilweise komplett ohne weibliche Beiträge aus. Ohne diesen genderspezifischen Aspekt überbetonen zu wollen, sticht er dennoch heraus, wenn wir uns dem zweiten großen Feld einer poetischen Textproduktion zuwenden, das in den 1960er Jahren im Zuge einer allgemeinen Öffnung und Annäherung der künstlerischen Disziplinen – einer zunehmenden Verfransung, wie Theodor Adorno es einmal genannt hat – entsteht. Die Sprache wird performativ. Gedichte, Lyrik, poetry streben in ihrer Betonung der phonetischen Qualität von Sprache geradezu danach, laut gelesen oder gar performt zu werden. Ein Faktor, dem die Visuelle Poesie übrigens ganz entschieden entgegenarbeitet, wenn sie die Betrachtung des Sprachlichen als visuelles Buchstabensystem gegenüber dem nachvollziehenden Lesen privilegiert. Der Klang von Wörtern, der Rhythmus von Versen, von Wortkombinationen hingegen artikuliert sich vor allem dann, wenn die phonetische Ebene aktiviert wird. Nun hatte der öffentliche Gedichtvortrag lange Zeit einen überaus bildungsbürgerlichen Anstrich, was einer experimentellen Aneignung nicht unbedingt förderlich war. Im Zuge von Fluxus und anderen Grenzübertritten der bildenden Kunst in Richtung Literatur, Performance und vor allem Musik war aber auch dieses Genre bereit für eine radikale Re-Lektüre.
Im Rahmen einer neuen, stimmhaften Poetik wurde das Wort deshalb konsequent Teil einer körperlosen, hybriden Textproduktion. Im Zuge der zweiten Welle des Feminismus ging es bei diesen Experimenten mit einer verkörperten Sprache häufig auch um eine Neuformulierung von Identitäten und einen Gegenentwurf zu einer binären Sichtweise auf die Welt. Indem sich die performte Sprache der Kohärenz eines identitätsbasierten Determinismus entzog, wurde sie noch einmal von narrativen Mechanismen befreit. Bestehende identitäre Verknüpfungen, Zurichtungen, Einengungen, Rollenzuschreibungen und Kategorisierungen lösten sich in der sprachlichen Performanz auf oder wurden neu formatiert.
Katalin Ladik, eine jugoslawisch-ungarische, multimediale Künstlerin, Dichterin und Vocal Arts Performerin, deren Werk konzeptuell in den multiethnischen Avantgarden des ehemaligen Jugoslawiens verwurzelt ist, hat früh mit Sprache experimentiert und diese, losgelöst vom Buch, präsentiert. Das Verstehen funktioniert bei ihr jenseits von Nationalsprachen und jenseits klassisch logozentrischer Kategorien. Ladik setzt dezidiert ihre Stimme als Instrument und Medium ein, moduliert Klänge von Buchstaben und produziert gerade aus diesem radikal reduzierten Material enormen konnotativen Überschuss. Ihr bekanntes Werk O-pus liefert den Soundtrack für ein experimentelles Video von Attila Csernik, es kann aber auch live aufgeführt werden. Im Video wird der Buchstabe O vom Papier befreit und wandert durch den filmischen Raum, bis er schließlich schwebend eine immaterielle, primär klangliche Präsenz entwickelt. In ihrer Ausstellung 2023 im Münchner Haus der Kunst aktivierte Ladik das Werk noch einmal, jetzt entlang seiner visuellen Notation im Stiegenhaus. Die Handlungsanweisung der Sprachperformance – der Buchstabe „o“ wird neunmal wiederholt, mit gespitzten Lippen und vibrierenden Stimmbändern, dann folgt eine kurze Pause und schließlich das „pus“ als sanfter Ausstoß – scheint einfach, das Ergebnis gleicht jedoch einer konzeptuellen Opernarie. [5]

MAK Ausstellungsansicht, 2025
TURNING PAGES. Künstler*innenbücher der Gegenwart
Zentraler Raum MAK Design Lab
© MAK/Christian Mendez
Was uns vor die grundsätzliche Frage stellt: Wie spricht man über etwas, das sich bewusst dem diskursiven Sinn konventioneller Sprache widersetzt? Auch die Nullpunkte, die alle bislang erwähnte, letztlich noch der Moderne verpflichtete Sprachkunst prägen, sind nicht endlos variierbar. Wenn wir einen Sprung in die unmittelbare Gegenwart machen, fällt denn auch auf, dass es bei vielen Werken wieder narrativer wird, ohne dass sich diese deshalb der klassischen Logik des Sinns unterwerfen. Da wäre zum Beispiel Nora Turato als Vertreterin einer jüngeren Generation, die Ladiks Praxis dezidiert aufgreift, das Lautmalerische jedoch durch assoziative Fragmente jener Sprache ersetzt, die durch digitale Medien unaufgefordert auf uns einströmt. Turato eignet sich Slogans, Gesprächsfetzen und Textfragmente an und verarbeitet sie in Performances, in Buchform, aber auch in Wandmalereien und Videoinstallationen zu repetitiven Litaneien, die die Essenz (und den Nonsens) algorithmisierter Alltagskommunikation kondensieren. Die entmaterialisierte, durch den digitalen Raum geisternde Sprache wird hier einerseits verkörperlicht, ohne dass das Subjekt tatsächlich selber spricht, andererseits manifestiert sie sich im Raum, wo ihre Banalität eine eigene Semantik generiert.
Irgendwo zwischen dem Wunsch nach Authentizität und dem Zwang zur Uniformität hat diese recycelte Sprache nicht nur die Textur des Urbanen durchdrungen, sondern auch die Menschen, die sich durch diese bewegen. Eingebettet in die Welt des Kommerzes und der digitalen Selbstdarstellung beleuchtet Turatos Werk folglich deren Funktionieren und Performanz, durchforstet Feeds, Accounts, Nachrichten, Listen und fertigt Skripte, die als Grundlage für wandfüllende Malereien wie auch für Performances dienen. Turatos oft halbstündige Monologe sind sorgfältig choreografiert und einstudiert, wobei sie ihre Stimme, die sie zusammen mit einem Stimm- und Dialektcoach für Filmschauspieler trainiert, ähnlich facettenreich einsetzt wie vor ihr Ladik. Ihre Wand- und Schriftbilder wiederum erinnern entfernt an Werke von Künstlerinnen wie Barbara Kruger und aktualisieren konzeptuelle Betrachtungen zur Urheberschaft noch einmal neu.
Auch Hanne Lippard zählt zu den neueren Sprachperformerinnen aus dem Kunstkontext, wobei sie tatsächlich allein ihre Stimme, live oder in Klanginstallationen, zum Medium macht und diese in spezifischen architektonischen Situationen präsentiert. Ihre narrativen Sequenzen zielen in ihrer Appropriation existierenden Materials und dessen repetitiver Modulation direkt auf das, was Roman Jakobsen mit seiner gleichnamigen Sprachfunktion umkreist hat. Im Rückgriff auf Klischees der Alltagssprache betrachtet Lippard das Leben quasi durch die Filter sozialer Medien, um diese über syntaktische Wiederholungen und Verfremdungen, durch Intonationsverschiebungen oder die Nutzung von Homonymen zu manipulieren und zu melodischen Abstraktionen umzuformen. Wie Turato zeichnet sie den Aufstieg der digitalen Kommunikation nach und wie dieser unsere Beziehung zur Sprache neu programmiert. Ihr Fokus auf die bewusste wie unbewusste Automatisierung von Sprache lässt konnotative Zweideutigkeiten und das Potenzial für Fehlinterpretationen aufscheinen, zielt aber auch auf semantische Entleerung. [6]
Die installativ werdende Sprache wiederum (das wäre die andere Seite des Spektrums einer in den Raum ausgreifenden Poesie) präsentiert sich nicht zwangsläufig als lesbarer Slogan, als Wandgedicht. Barbara Kapusta, deren Werk hier als Beispiel dienen soll, zeichnet sich zwar durch eine langjährige Beschäftigung mit der Beziehung zwischen Körper und Sprache, zwischen Materialität, Sprache und Architektur aus. Ihre schwarzen Vinyl-Buchstaben treten zwar in ein Verhältnis zum Raum und suggerieren eine bildhafte Schrift, letztlich bleiben sie jedoch unlesbar. Kapusta spricht allerdings bewusst von Sprachkörpern, von „linguistic bodies“, denen eine eigenwillige Handlungsmacht innewohnt und die sich normativen Mustern entziehen. Sprachbasierter Text präsentiert sich in ihren großformatigen Wandarbeiten, die teilweise auf ein eigenes Alphabet aus Flammen zurückgreifen, in einer grundlegenden Ambivalenz, die auch eine sprachliche Queerness impliziert. Die kryptischen Zeichen verkörpern englischsprachige Wörter oder ganze Sätze, die sich auf Formen eines Miteinanders, eines Austauschs beziehen. Jede sprachliche Ordnung bringt schließlich eigene Regeln und damit auch Ausschlüsse mit sich. Eine rein bildliche, figurativ anmutende Sprache, die klassische Lesbarkeiten hinter sich lässt, unterwandert jedoch solche vorgefassten Strukturen; und tatsächlich lässt sich in einer Arbeit wie A New Fiery Community (2024) der Titel „verstehen“, sobald man akzeptiert, dass Schrift nur eine Möglichkeit von Zeichensprache unter vielen ist und auch visuelle Eindrücke in den Bereich der Semiotik fallen können.
Fassen wir also zusammen: Die visuelle Poesie und später dann die Bildwerdung des Wortes im Raum streben nach Ambivalenz, häufig auch nach Negation, suchen das disruptive Moment der kommunikativen Funktion von Sprache, zerlegen sie und setzen sie neu zusammen. Es ist eine der Spätmoderne, der versuchten Annäherung an den Nullpunkt verpflichtete Abstraktion, die die Semantik durch ihre partielle Auslöschung neu denkt und neue Potenziale in der Geste der Verneinung freilegt. Es geht ihr um die Vieldeutigkeit, die in der Redundanz liegen kann, um das Überschreiben von Inhalten, die sich dann im Negativraum des Imaginären neu formieren, oder um die reine Anarchie einer von Logos und Grammatik befreiten Sprache, die als ästhetisch überhöhter Buchstabensalat Souveränität gewinnt.
Die performative Aktivierung der Sprache hingegen setzt auf Befreiung, auf das unendliche Potenzial der subjektiven Artikulation. Die Verkörperlichung des Klanglichen stellt der Aktivierung interessanterweise dennoch gerne die Schriftversion des Performten zur Seite: als Verweis auf die fundamentale Differenz in der Wahrnehmung und Subjektivierung eines objektiv anmutenden Notationssystems. Wenn die Sprache durchlässig wird hin zum Graphischen und Musikalischen, zum Visuellen und Akustischen, wenn sie sich von den Konventionen des Gebrauchs weitestgehend emanzipiert, in den materiellen oder immateriellen Raum strebt, dann ist das auch ein Versuch, sich in einer radikal veränderten Welt sprachlich neu zu orientieren.
Dieser Aspekt gewinnt in Zeiten des Vordringens von KI in die Textproduktion noch einmal an Virulenz. Dort, wo die poetische Sprachfunktion souverän in Erscheinung tritt, kann sie nämlich auch eine Aufforderung zum Aufstand sein, so zumindest Franco „Bifo“ Berardi in seinem Buch The Uprising. [7] Er entdeckt in der Analyse unserer durchökonomisierten Gegenwart und deren angeblicher Alternativlosigkeit ausgerechnet die Poesie als subversives Werkzeug der Gegenwehr. Ganz italienischer Postmarxist, konstatiert Berardi im Nachgang der jüngeren Finanzkrisen, dass der konkrete Nutzen von Dingen oder Tätigkeiten zunehmend irrelevant werde gegenüber ihrem Markt- und Geldwert. Alle Lebensäußerungen müssten sich einer allgemeinen Verwertungslogik fügen, was auch zu einer Krise der Kultur und der sozialen Imagination führe. Die neoliberale Deregulierung entkoppele ihre Finanztransaktionen nicht nur von staatlicher Kontrolle, sondern auch von der materiellen Produktion; sie sei ein selbstreferenzielles System geworden. Ähnliches geschehe mit der Sprache: Spätestens seit dem Symbolismus habe sich die Sprache von geltenden Sinnzusammenhängen gelöst und beziehe sich nicht mehr notwendig auf Dinge oder Menschen, sondern sei zu einem in sich geschlossenen Symbolsystem geworden. So wie der Symbolismus mit der Trennung des sprachlichen Signifikanten von seiner denotativen und referenziellen Funktion experimentierte, so hat der Finanzkapitalismus den monetären Signifikanten von seiner Referenz auf physische Güter getrennt. Sprache und Objekt sind voneinander so entkoppelt wie Geld und Gegenstand, wie Tauschwert und Gebrauchswert.
Poesie bedeutet für Berardi deshalb die Rückkehr zur semantischen Offenheit, ist die Aufforderung, die festgelegte Bedeutung der Wörter zu überschreiten. Grammatik dient üblicherweise der Festlegung jener Grenzen, die einen Kommunikationsraum definieren. Und heute ist die Ökonomie jene universelle Grammatik, die die verschiedenen Ebenen menschlicher Aktivität durchzieht. Die Sprache wiederum ist dem Zwang zur ökonomischen Austauschbarkeit unterworfen, wird auf Information begrenzt und ist in die techno-linguistischen Automatismen des sozialen Sprachgebrauchs eingebunden.
Berardis Programm lautet deshalb, aus der Entfremdung eine neue Autonomie zu gewinnen. Gegen die Vereinnahmung der Sprache durch die finanzkapitalistische Logik, die alle sozialen Beziehungen in Marktbegriffe zwängt, setzt er die Poesie mit ihrem nie vollständig steuerbaren Sprachüberschuss: „Poetry is language’s excess: poetry is what in language cannot be reduced to information, and is not exchangeable, but gives way to a new common ground for understanding, of shared meaning: the creation of a new world.“ [8]
Folgt man Berardi, ist das Symbolische der Sprache bereits durch die kapitalistische Semantik usurpiert worden. Und die digitale Technologie hebt erst recht an, die einzigartige Ausdruckskraft von Polysemie, Gestik und Stimme aufzuheben zugunsten einer Sprache, die allein der linguistischen Maschinerie unterworfen ist. Mit Bezug auf die symbolistische Dichtung erinnert Berardi deshalb an die Körperlichkeit der Sprache, ihre reine Form jenseits des Inhalts, die ihr Zur-Ware-Werden verhindern. Algorithmen verstehen keine Dichtung, und KI kann sie nur schlecht kopieren. Die poetische Sprache ist insofern auch eine Besetzung des Kommunikationsraums durch Worte, die sich der Ökonomisierung entziehen: eine Sprache der Nicht-Austauschbarkeit und Rückkehr der sinnlichen Kraft der Schrift.
[1] Franz Mon, „zur poesie der fläche“, in: Konkrete Poesie. Eine Anthologie von Eugen Grominger, Stuttgart 1972, 169.[2] Ebd.[3] Roman Jakobsen, „Linguistik und Poetik“, in: Ders., Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971, Frankfurt am Main 1989, 94.[4] Vgl. den Vortrag von Diedrich Diederichsen: Lecture von Diedrich Diederichsen über Künstler*innenbücher – MAK Blog[5] Eine Videodokumentation findet sich hier: https://www.youtube.com/watch?v=la7TJ4z83Ao[6] Beispiele von Hanne Lippards Audioarbeiten finden sich auf der Website der Künstlerin: https://hannelippard.com/[7] Franco „Bifo“ Berardi, The Uprising. On Poetry and Finance, Los Angeles 2012.[8] Ebd., 147.
Die Ausstellung TURNING PAGES. Künstler*innenbücher der Gegenwart ist bis zum 22.3.2026 im Zentraler Raum MAK Design Lab zu sehen.
Ein Beitrag von Vanessa Joan Müller, Kuratorin und Autorin
Der Blogbeitrag erscheint im Rahmen des interdisziplinären Creative Europe Projekts AbeX.
Dieses Projekt wird unterstützt von Creative Europe.


Die Ausstellung TURNING PAGES. Künstler*innenbücher der Gegenwart sowie das zugehörige Rahmenprogramm und die begleitende Publikation sind Teil des interdisziplinären Creative Europe Projekts AbeX, finanziert von der Europäischen Union.
Die geäußerten Ansichten und Meinungen entsprechen jedoch ausschließlich denen des*der Autor*in bzw. der Autor*innen und spiegeln nicht zwingend die der Europäischen Union oder der Europäischen Exekutivagentur für Bildung und Kultur (EACEA) wider. Weder die Europäische Union noch die Vergabebehörde können dafür verantwortlich gemacht werden.