21. Oktober 2021
Kundschaft in den höchsten Kreisen: Die Strategen der Roentgen Manufaktur
Die spektakuläre Möbelkunst von Abraham und seinem Sohn David Roentgen war nicht zuletzt auch ein großer wirtschaftlicher Erfolg und bediente den Luxusmarkt. In diesem letzten Beitrag der Serie über den Roentgen Schrank beschreibt Achim Stiegel, der Kurator der Möbelsammlung am Kunstgewerbemuseum der Staatlichen Museen in Berlin, die Verkaufsstrategien der Manufaktur und wie die herrschenden Adeligen zu Kunden wurden.
Die Werkstatt von Abraham und David Roentgen bestand über zwei Generationen und diese Kontinuität legte auch den Grundstein für die fortschreitende Perfektionierung ihrer Möbelkunst. Erst die stetig wachsende Erfahrung und Finanzkraft ermöglichten die stilistische und technische Verfeinerung, die Ausreifung der mechanischen Komponenten, die Verarbeitung bester Materialien sowie die Ausstattung mit kostbarsten vergoldeten Bronzebeschlägen und Uhr- und Musikspielwerken.
Entscheidend für die außergewöhnliche Qualität der Möbel von Abraham und David Roentgen war neben dem handwerklichen und künstlerischen Talent und der pietistisch geprägten Arbeitsethik auch der wirtschaftliche Erfolg. Dabei ist die Geschichte der Ebenisten Abraham und David Roentgen untrennbar mit deren Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Herrnhuter verbunden. Diese protestantische missionarische Freikirche genoss elitäre Freiheit von den Beschränkungen der ständischen Gesellschaft und vom Landesherrn gewährte Privilegien zur unabhängigen sozialen und ökonomischen Verfassung. Sie ermöglichte die Errichtung einer wachsenden, später manufakturähnlichen Werkstatt mit Dutzenden von Mitarbeiter*innen und Zulieferern. Sie bot die Voraussetzungen für die enorme, gewerbeübergreifende Produktion und die nötigen Kredite ebenso wie ein weltweit gespanntes Netzwerk und nicht zuletzt für ein sicheres Auftreten in den höchsten Kreisen der adligen Kundschaft.
Vor diesem Hintergrund entwickelte David Roentgen eine Vielzahl von Verkaufsstrategien, die unabhängig von Auftragsarbeit auf die wirtschaftliche Existenz außerhalb der Grenzen der Zunft und des heimischen Hofes gerichtet waren und auf den überregionalen und internationalen Markt für Luxuswaren zielten: darunter bekannte Projekte wie die Teilnahme an Messen oder das Ausrichten von Lotterien und weniger beachtete Unternehmen wie die Gewinnung neuer Kundenkreise durch das überwältigende Angebot spektakulärer Einzelstücke.
So ist der große Kabinettschrank nicht nur das wohl bedeutendste Möbel der Manufaktur, sondern auch beeindruckendes Exempel für David Roentgens perfektioniertes Kalkül. Auf eigenes Risiko fertigte er das spektakuläre Hauptstück für die Manufaktur an, um damit Werbung zu machen und zusammen mit dem Herrscher auch dessen Hof zum Kunden zu gewinnen. In drei Exemplaren gefertigt, war der Kabinettschrank das wegweisende Projekt der 1770er Jahre, ein Schlüssel zum Eintritt auf das Parkett der bedeutendsten europäischen Höfe: dem des Kaisers, des französischen Königs und der jungen preußischen Großmacht. Stets waren diese Projekte durch ausgedehnte diplomatische Bemühungen abgesichert, die darauf zielten Empfehlungsschreiben zu erhalten, den unverzollten Transport der Luxuswaren bis an den avisierten Hof zu bewerkstelligen und Informationen über die persönlichen Vorlieben der Herrscher zu erlangen. Unschätzbar waren gute Kontakte wie der zum österreichischen Botschafter in Paris, Florimund Mercy d’Argenteau, an den sich Roentgen wiederholt in unverblümter Direktheit wandte.
Das erste Exemplar des Großen Kabinettschranks, das hier im MAK bewahrt wird und im Mittelpunkt dieses Blogs steht wurde im Sommer 1776 an Karl Alexander von Lothringen verkauft. Er war seit 1744 kaiserlicher Statthalter der österreichischen Niederlande und residierte in Brüssel, ein Connoisseur von feinster Ebenisterie und vergoldeter Bronze. Für den im Rheinland tätigen Ebenisten, zu dessen Kunden mit den Kurfürsten die höchsten Repräsentanten der kaiserlichen Macht im Deutschen Reich zählten, war es nur folgerichtig, sich zur Gewinnung des Kaiserlichen Hofes an diesen nahen Repräsentanten zu wenden. Nachdem die zollfreie Einfuhr nach Brüssel gewährt war, fand der Fürst im August 1776, als er, wie er in seinem Journal Secret festhielt, „wegen Regierungsgeschäften“ nach Brüssel kam, dort David Roentgen und den Kabinettschrank bereits vor. Der Fürst entschied sich trotz des ungeheuren Preises – es sollte sein bei weitem kostspieligstes Möbel bleiben – für den Ankauf des wegen der vielen Mechanik als Maschine bezeichneten Bureaus.
Vermutlich war Karl mit seinen verwandtschaftlichen Beziehungen zur französischen Königin eine hilfreiche Referenz, als David Roentgen im Spätherbst 1778 mit einer großen Partie von Möbeln – darunter als Hauptstück das zweite Exemplar des Kabinettschranks– nach Paris kam, um dem königlichen Paar seine Aufwartung zu machen. Nach dreimonatigem Antichambrieren erwarb Ludwig XVI. das Stück als würdigen Nachfolger des zehn Jahre zuvor von Ludwig XV. angeschafften „Bureau du Roi“, dem berühmten Zylinderbureau von Oeben und Riesener. Der Ankauf des Kabinettschranks als teuerstes Möbel, das der König je erworben hatte, und seine geschickt erlangte Bestallung zum Ebeniste de la Reine machten David Roentgen schlagartig berühmt.
David Roentgens ursprüngliche Pläne sahen offenbar vor, das inzwischen fertig gestellte dritte Exemplar des Kabinettschranks im kaiserlichen Wien selbst anzubieten. Sicherlich richtete sich sein Angebot nicht an die betagte Maria Theresia, sondern an ihren Sohn Kaiser Joseph II. Jedoch schlugen trotz seiner guten Verbindungen zum österreichischen Botschafter seine Bemühungen fehl, die rigorosen Einfuhrzölle auf Luxuswaren zu umgehen, die schon die Einfuhr nach Wien zu einem finanziellen Wagnis werden ließen. Da der Verkauf des außergewöhnlichen Stückes vollkommen von dem persönlichen Eindruck abhing, konnte David Roentgen nicht auf die für Auftragsarbeit geschaffene Regelung eingehen, seine Ware zunächst an der Grenze zu deponieren, um anschließend die Zollbefreiung zu erwirken.
Daraufhin wandte er sich nach Preußen. In Berlin hatte man die Nachrichten aus Paris aufmerksam verfolgt, und im Juli 1779 schrieb die Königlich privilegirte Berlinische Staats- und gelehrte Zeitung über den Aufsehen erregenden Kabinettschrank des französischen Königs und den „schon seit mehreren Jahren durch seine vortreffliche Arbeit bekannt gewordene[n] Tischlermeister von Neuwied, Herr[n] Röntgen“. Als Roentgen nun dem preußischen Thronfolger anbot, ihm ein solches Stück persönlich vorführen zu wollen, arrangierte dieser das nötige Entgegenkommen im Umgang mit den Einfuhrbestimmungen. Bereits sechs Wochen nach dem ablehnenden Bescheid des österreichischen Botschafters, konnte David Roentgen diesem antworten, „dass ein anderweitig Hoher Befehl von einem großen Hof, wohin ich mich in kurtzem begeben werde, meine Reise nach Wien wahrscheinlich bis auf künftiges Frühjahr zurücksetzen könnte.“ So gelangte das letzte und reifste Exemplar der drei großen Kabinettschränke im Dezember des gleichen Jahres nach Berlin, wo es der preußische Thronfolger für nicht minder sagenhafte 12.000 Goldtaler, gut 21.500 Gulden erwarb, jedoch zunächst 6.000 Taler anzahlte und so der Manufaktur auf Jahre verbunden war.
Als Friedrich Wilhelm II. im Spätsommer 1786 auf den preußischen Thron gelangte, machte David Roentgen seinem langjährigen Kunden noch im Dezember seine Aufwartung. Dabei präsentierte er ihm eine Schuldrechnung in wahrhaft königlicher Höhe, denn allein die ausstehende Restzahlung für den Großen Kabinettschrank war über sieben Jahre mit Zinsen auf 8.100 Taler angewachsen. Angesichts des vielfach bezeugten diplomatischen Gespürs von David Roentgen erscheint es überzeugend, dass er seine enorme Forderung mit einem Geschenk begleitete, wofür sich die neue Mitteltür des Kabinettschranks mit der Huldigung des Königs als Förderer der Künste und Wissenschaften auf ideale Weise anbot. Mit dem Austausch der Mitteltür wurde nicht nur die alte Darstellung von Geometrie und Astronomie ersetzt, sondern auch die untere rechte Tür mit der Verkörperung der Bildhauerei, an deren Stelle nun das im Zentrum verdrängte Motiv trat. Beide Türen waren noch 1910 zusammen mit dem Kabinettschrank verwahrt und sind heute leider verloren.
Auch nach der Gewinnung eines Herrschers als neuen Kunden gehörte die Produktion ohne konkreten Auftrag, die damit verbundene Freiheit sowie das Risiko weiterhin zum charakteristischen Profil der Manufaktur. Während Katharina die Große 1786 die gesamte berühmte Lieferung von über 130 Stücken abnahm, ging diese Rechnung beileibe nicht immer auf. 1787 nahm der preußische König von 26 angebotenen nur 14 Stücke ab und die russische Zarin beendete 1790 ihre siebenjähriges Engagement, als sie ein Zylinderbureau mit brüsken Worten ablehnte: „So weiß ich nicht, weshalb ich etwas kaufen soll, womit ich nichts anfangen kann und das ich weder gesehen noch bestellt habe; das ist nicht recht von Seiten des Herren David Roentgen.“
Bei aller Bewunderung für die künstlerischen, handwerklichen und technologischen Fähigkeiten, die sich in den Werken der Roentgenmanufaktur spiegeln, sollte man also nicht vergessen, dass die Möbelkunst vor 200 Jahren auch ein hartes Geschäft war, das Mut zum Risiko, Glück und ein genaues Kalkül erforderte.
Ein Beitrag von Achim Stiegel, Kurator der Möbelsammlung am Kunstgewerbemuseum der Staatlichen Museen zu Berlin.