Julius Deutschbauer über den Tanzpartner Litfaßsäule und seine Zitier- und Plakatsucht

Dem Grafiker, Schriftsteller, Filmer und Performer Julius Deutschbauer ist derzeit eine Ausstellung im MAK gewidmet. Seit 30 Jahren verunsichert er mit seinen Plakaten das Stadtbild Wiens. Sämtliche seiner bisher geschaffenen Plakate sind zu sehen und werden durch seine künstlerische Intervention Bibliothek ungelesener Bücher ergänzt. Den Schriftsteller in Julius Deutschbauer hat Kuratorin Kathrin Pokorny-Nagel für den MAK Blog um einen Essay gebeten.

Tanzpartner Litfaßsäule

„Wer soll denn das kaufen!“, ruft meine 92jährige Mutter aus, nachdem ich ihr von meiner Ausstellung im MAK – Museum für angewandte Kunst erzähle. 209 Plakate aus 30 Jahren und immer ich ich ich. „209 mal du?! So schön bist du auch wieder nicht?“

Julius Deutschbauer, Plakat Nr. 209 (28. März 2023 09:44): Betreff: AW: MA 46 - P82/148118/2023/GEE/PRO Litfaßsäule MAK © Julius Deutschbauer Foto: David Jagerhofer, 2023

Julius Deutschbauer, Plakat Nr. 209 (28. März 2023 09:44): Betreff: AW: MA 46 – P82/148118/2023/GEE/PRO Litfaßsäule MAK
© Julius Deutschbauer Foto: David Jagerhofer, 2023

Immer besorgt angesichts meiner überaufzählbaren finanziellen Desaster, grübelt sie schlaflos auf ihrem Bette, was ihr Sohn denn sonst darstellen könnte, um die Darstellung seiner selbst zu vermeiden. Früh morgens steht sie auf, reißt aus einer ausgedienten Medikamentenschachtel einen Karton, 12,5 x 7,5 cm, heraus und beschriftet die unbedruckte Seite engst mit in Frage kommenden Motiven:
„Kinder Schuhe alte Frau alter Mann Senf
Katzen Hunde Sterne Berge
Obst Fische Füße Sonnenblumen
keine Nackten keine Gewehre Hitler auch nicht
dein Gesicht auch nicht!“
Meine Mutter denkt in Rufzeichen.
„Satzzeichen sind Verkehrssignale“, schreibt Theodor W. Adorno in Noten zur Literatur. „Ausrufungszeichen sind rot, Doppelpunkte grün, Gedankenstriche befehlen stop.“
Gedankenstriche setzt sie keine.

Julius Deutschbauer in der MAK Ausstellung ZUR FREIEN ENTNAHME. Julius Deutschbauer – 30 Jahre Plakate vor der Bibliothek ungelesener Bücher © kunst-dokumentation.com/MAK

Julius Deutschbauer in der MAK Ausstellung ZUR FREIEN ENTNAHME. Julius Deutschbauer – 30 Jahre Plakate vor der Bibliothek ungelesener Bücher
© kunst-dokumentation.com/MAK

Am Tag vor der Eröffnung der Ausstellung ZUR FREIEN ENTNAHME. Julius Deutschbauer – 30 Jahre Plakate erreicht das MAK ein Mail.
Gesendet: Montag, 27. März 2023 um 08:36 Uhr
Betreff: MA 46 – P82/148118/2023/GEE/PRO Litfaßsäule MAK
Gesendet vom Dezernat Behörde und Planung, Gruppe Mitte, vom Teamleiter für den 1. Bezirk, der MA 46: Verkehrsorganisation und technische Verkehrsangelegenheiten:
„Nach Abstimmung mit der MA 19 auf kurzem Weg muss ich Ihnen bedauerlicherweise mitteilen, dass auch dieser Standort aus stadtgestalterischen Aspekten keine Zustimmung findet. Ich ersuche um Kenntnisnahme.“
Ich nehme zur Kenntnis, stimme mich auf kurzem Weg mit der MA 19 (Abteilung für die zeitgemäße Entwicklung des Wiener Stadtbildes) ab, umarme die inkriminierte Litfaßsäule und gedenke dem Schutzpatron meiner Kunstform Ernst Theodor Litfaß (1816–1874). Ann Cotten nennt mich den „treuesten Beischläfer dieser Kunstform“.
Am Tag vor der Eröffnung der Ausstellung ZUR FREIEN ENTNAHME. Julius Deutschbauer – 30 Jahre Plakate stirbt die Schlagerlegende Mandy von den „Bambis“.
Am Tag der Eröffnung der Ausstellung ZUR FREIEN ENTNAHME. Julius Deutschbauer – 30 Jahre Plakate tanze ich mit der Litfaßsäule nach „Melancholie“, dem größten Hit der Bambis. Eine Litfaßsäule ist der ideale Tanzpartner. Wir sind schon für die nächste Staffel von Dancing Stars nominiert.

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Performance von Julius Deutschbauer anlässlich der Eröffnung der Ausstellung ZUR FREIEN ENTNAHME. Julius Deutschbauer – 30 Jahre Plakate am 28. März 2023
© Kathrin Pokorny-Nagel/MAK

Am Tag nach der Eröffnung der Ausstellung ZUR FREIEN ENTNAHME. Julius Deutschbauer – 30 Jahre Plakate trinke ich gleich mehrere Reparaturachteln auf die MA 19 und 46 und all die anderen Magistratsabteilungen der Stadt Wien.
Am Tag danach denke ich intensiv über mein allerletztes Plakat nach, mutmaßlich 0815.: Julius Deutschbauer – ENDLICH TOT.
Noch am selben Tag übergebe ich diese Hinterlassenschaft meiner Stieftochter Antonia Prochaska. Sie schlägt vor, meine Asche der Druckerei zur Farbbeimischung zu übergeben.
Meine Mutter ist 92. Also kommen vor ENDLICH TOT noch mindestens 209 weitere. Das 210. ist bereits in Druck. Siehe Anhang!

Julius Deutschbauer, Plakat Nr. 210: Die Gurke ist enttäuschend © Julius Deutschbauer Foto: David Jagerhofer, 2023

Julius Deutschbauer, Plakat Nr. 210: Die Gurke ist enttäuschend
© Julius Deutschbauer Foto: David Jagerhofer, 2023

Julius Deutschbauers Zitier- und Plakatiersucht

Julius Deutschbauer hat ein Faible für Bibliografien. Das Universalgenie ist auch noch selbsternannter Bibliothekar. In diese Funktion schlüpft er, indem er seine Plakate mit Zitaten aus der Weltliteratur versieht. Für den MAK Blog hat er eine assoziative Zusammenstellung seiner wichtigsten Plakate, sprich Zitate, kreiert:

Lesedemo von Julius Deutschbauer am 16. Mai 2023 im Rahmen der Ausstellung ZUR FREIEN ENTNAHME. Julius Deutschbauer – 30 Jahre Plakate © Kathrin Pokorny-Nagel/MAK

Lesedemo von Julius Deutschbauer am 16. Mai 2023 im Rahmen der Ausstellung ZUR FREIEN ENTNAHME. Julius Deutschbauer – 30 Jahre Plakate
© Kathrin Pokorny-Nagel/MAK

Plakat Nr. 209 (28. März 2023 09:44): Betreff: AW: MA 46 – P82/148118/2023/GEE/PRO Litfaßsäule MAK
„Nach Abstimmung mit der MA 19 auf kurzem Weg muss ich Ihnen bedauerlicherweise mitteilen, dass auch dieser Standort aus stadtgestalterischen Aspekten keine Zustimmung findet. Ich ersuche um Kenntnisnahme.“ (E-mail der MA 46 zum Antrag des MAK über die Aufstellung einer Litfaßsäule vor dem Eingang zum Museum)
Plakat Nr. 1 (4. Dezember 1993): Wir haben geheiratet.
„Hallo, ein Plakat.“ (James Joyce, Ulysses, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, S. 257)
Nr. 11 (1999): Natürlich bin ich gegen das Ozonloch
„Man hat plakatiert.“ (Joyce, S. 263)
Nr. 32 (2001): Spendenkonto „Armer Poet“ P.S.K. 74596368
„Fünf weißbezylinderte Plakatträger trotteten den Weg zurück, den sie gekommen waren.“ (Joyce, S. 318f)
Nr. 48 (2002): Politisch für Künstler
„Der weise Bloom beäugte an der Tür ein Plakat, eine wunderschöne Nixe, rauchend inmitten hübscher Wellen.“ (Joyce, S. 365)
Plakat Nr. 74 (2004): Antifaschismus Vergnügungspark
„Er klatscht geschickt ein eitergelbes Flugblatt seitlich an die Wand und stößt es mit dem Kopf fest. / DAS FLUGBLATT K. II. Plakatankleben verboten.“ (Joyce, S. 687)
Nr. 97 (2007): Flüchtlingsdrama am Lunzer See
„Sie könnten übrigens mal ein gutes Wort für mich einlegen, dass man mich da nimmt. Ich würde ja gern auch als Plakatträger gehen.“ (Joyce, S. 767)
Nr. 110 (208): Plakatieren verboten
„Ein Plakat auf deinen Schreibtisch, groß beschriftet. […] Dir geht es gut.“ (Gottfried Benn, Doppelleben, Stuttgart: Clett-Kotta 1984, S. 161)
Nr. 134 (2011): Das große Umsteigeseminar – Geschlecht wechseln
„Dort und da sieht man noch riesige Werbeplakate, auf denen Sonnenblumen abgebildet sind.“ (Josef Winkler, Die Verschleppung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 48)
Plakat Nr. 150 (2012): Austrophobie Vergnügungspark
„Und der Chef des Wurstladens kam auch heraus und sagte: ‚Ach, das ist ja der große schwarze Hund, der sich gestern verlaufen hat, ich selbst habe das bunte Plakat gelesen.‘“ (H. C. Artmann, Ein Hund namens Zottel, in: Gesammelte Prosa 1972 – 1996, Salzburg – Wien: Residenz 2015, S. 123)
Nr. 153 (2012): Suche die unpolitischste Theaterproduktion Wiens
„Es standen zwar viele Leute vor dem Plakat, aber es schien nicht viel Beifall zu finden. Es gab soviel Plakate, Plakaten glaubte niemand mehr. Und dieses Plakat war noch unwahrscheinlicher, als Plakate sonst zu sein pflegen.“ (Franz Kafka, Der Verschollene, Frankfurt am Main: Fischer 2008, S. 295)
Nr. 160 (2013): Meine Schwester – ein zum Gedankenstrich flachgelegtes Ausrufungszeichen
„Für Karl stand aber doch in dem Plakat eine große Verlockung.“ (Ebd.)
Nr. 163 (2014): Sesselkrieg zwischen allen Stühlen
„‚Du wirst nicht sterben!‘, sagte der Mann, der die Plakate klebte, und erschrak über seine Stimme.“ (Ilse Aichinger, Das Plakat, in: Der Gefesselte, Frankfurt am Main: Fischer 2021, S. 39)
Plakat Nr. 173 (2015): Europa, die Toten haben nichts zu lachen
„Der Mann warf seinen Pinsel in den Eimer zurück und stieg von der Leiter, nahm die Leiter über die Schulter und ging.“ (Ebd.)
Nr. 179 (2016): Darling, ich habe schon wieder einen Koran geschrumpft
„Der Junge auf dem Plakat lachte schreckerfüllt mit weißen Zähnen und starrte gerade aus.“ (Aichinger, S. 40)
Nr. 189 (2018): nass, kalt, unerbittlich
„Sterben, das hieß vielleicht von dem Plakat springen, sterben – jetzt wußte er es –, sterben mußte man, um nicht überklebt zu werden.“ (Aichinger, S. 43)
Nr. 199 (2021): Wer jetzt kein Haus hat …
„Niemand beachtete es, daß eines der Plakate schlecht geklebt worden war.“ (Aichinger, S. 47)
Nr. 203 (2022): Jedes Vollbad kostet mindestens zwei Ukrainer:innen das Leben
„Böse Zungen behaupten, seine Plakate gäbe es nur, um Menschen davon abzuhalten, Hausmauern zu beschmieren. […] Ganze Legionen von Stiften wurden gegen sie mobilisiert.“ (Kronenzeitung, Wien: Mediaprint, 6.10.2022, S. 4f) Bei beinahe jedem meiner inzwischen über 209 Plakate dachte ich mir, es wäre besser Holz der Güteklasse A/B verblieben: „Tote gehören in einen soliden Sarg.“ (Miriam V. Lesch, Wald, Wien: Edition Goldstück 2021, S. 46)
Plakat Nr. 207 (2023): ZUR FREIEN ENTNAHME / Julius Deutschbauer: 30 Jahre Plakate
„Gleich kommen die Männer und heben einen Sarg vom Leichenwagen. Und der Leichenwagen fährt fröhlich nach Hause.“ (Ilse Aichinger, Spiegelgeschichte, in: Der Gefesselte, Frankfurt am Main: Fischer 2021, S. 64)

Ein Essay von Julius Deutschbauer auf Einladung von Kathrin Pokorny-Nagel, Leitung MAK Bibliothek und Kunstblättersammlung/Archiv

Die Ausstellung ZUR FREIEN ENTNAHME Julius Deutschbauer – 30 Jahre Plakate ist noch bis 6.8.2023 im MAK Kunstblättersaal zu sehen.

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