ROSEMARIE CASTORO: Das künstlerische Werk als Zeitkapsel

3. August 2023

Forschung & Sammlung

Die New Yorker Künstlerin Rosemarie Castoro zählt zu den interessantesten Entdeckungen der Avantgarde der 1960er und 1970er Jahre. Im internationalen Kontext wird ihr mit einer neuen Aufmerksamkeit begegnet, die MAK Ausstellung ROSEMARIE CASTORO: Land of Lashes stellt ihr bedeutendes Œuvre erstmals im deutschsprachigen Raum vor. Bärbel Vischer, Kustodin der MAK Sammlung Gegenwartskunst, gibt für den MAK Blog einen Einblick in ihr Werk.

Rosemarie Castoro und Werner Pichler, New York, 1980er Jahre © Martin Gould/The Estate of Rosemarie Castoro

Rosemarie Castoro und Werner Pichler, New York, 1980er Jahre
© Martin Gould/The Estate of Rosemarie Castoro

Castoro schrieb ihre eigene Erzählung im Kontext der Minimal Art, Post-Minimal Art, Konzeptkunst und des Feminismus. In ihrer experimentellen Arbeitsweise verknüpfte sie Text, Zeichnung, Malerei, Bühnenbild, Skulptur, Tanz und Performance. Aufgangspunkt ihrer Produktionen ist das Moment der Bewegung. Ihr Gesamtwerk ist interdisziplinär angelegt und changiert zwischen der Abstraktion, Strategien des Minimalismus und dem Experiment mit surrealen und sexuellen Konnotationen. Dabei folgt die Künstlerin einem analytischen formalen und ästhetischen Muster. Das Serielle entwickelt sie als organische Formensprache mit einem besonderen Blick für Materialien, die sie stets selbst bearbeitet – ohne Hilfe von Assistent*innen.

MAK Ausstellungsansicht, 2023 ROSEMARIE CASTORO: Land of Lashes MAK Contemporary © MAK/Georg Mayer

MAK Ausstellungsansicht, 2023
ROSEMARIE CASTORO: Land of Lashes
MAK Contemporary
© MAK/Georg Mayer

Rosemarie Castoro (1939–2015) studierte Graphic Design am Pratt Institute in Brooklyn und engagierte sich in der New Dance Group. Zu ihrem Kreis zählten die Künstler*innen Carl Andre (verheiratet 1964–1970), Eva Hesse, Sol LeWitt und Agnes Martin. Sie fand Inspiration im modernen Tanz und arbeitete mit der Choreografin Yvonne Rainer zusammen. Künstlerisch reagierte sie auf die Zeit gesellschaftlicher und politischer Umbrüche und Diskurse der Ära der Bürgerrechtsbewegung, des Vietnamkrieges und der Frauenrechtsbewegung.

Rosemarie Castoro, Selbstporträt, New York, 1970 © The Estate of Rosemarie Castoro Courtesy of Thaddaeus Ropac, London · Paris · Salzburg · Seoul

Rosemarie Castoro, Selbstporträt, New York, 1970
© The Estate of Rosemarie Castoro
Courtesy of Thaddaeus Ropac, London · Paris · Salzburg · Seoul

Zunächst widmete sich Castoro der abstrakten Malerei in einer polychromen Farbpalette. Hier übersetzte sie Bewegungsmuster in eine abstrakte geometrische Formensprache. Einen Wendepunkt in ihrem Werk markiert ihr überdimensionales Gemälde Arm Swing Blues (1967). Eine durch Selbstauslöser während des Malens entstandene Fotodokumentation zeigt die Verschränkung zwischen Bild und Bewegung. Ein weiteres Schlüsselwerk ist Non- Correspondence Letter (1969), das als Malerei, Text und skulpturales Objekt zu verstehen ist.

 

In den 1970er Jahren setzte Castoro Skulpturen in den Raum, die eigene grafische und malerische Qualitäten entwickelten. Die Installation Two Curves (1970) besteht aus Bildflächen, die mit dynamischen Strichen versehen sind und auf das Gestische und Performative des malerischen Handlungsraums verweisen. Die Arbeit zählt zu der Werkgruppe der „Freestanding Walls“ – aus Paneelen zusammengesetzte Paravents, die zwischen Bildträger, Aktionsmalerei, Bühnenbild und Architekturelement changieren.

Rosemarie Castoro, Two Curves, 1970 © Charles Duprat. Courtesy Galerie Thaddaeus Ropac, London · Paris · Salzburg · Seoul

Rosemarie Castoro, Two Curves, 1970
© Charles Duprat. Courtesy Galerie Thaddaeus Ropac, London · Paris · Salzburg · Seoul

Laut der Kunsttheoretikerin und Kuratorin Lucy R. Lippard, die Castoros Werk früh begleitete und vermittelte, fokussierte sich Castoro auf die Linie als formale Lösung, sie projizierte den Körper in den Raum. Ihre Arbeiten sind „kinästhetisch“ – auf die Bewegungsempfindung bezogen – und wurden konzipiert, um aktiviert zu werden. Die Übersetzung von grafischen und malerischen Mitteln in eine skulpturale Sprache und den Raum führte zur Entwicklung variabler Raumformen und serieller Installationen. Dabei integrierte Castoro das Gestische und den Körper in den malerischen Handlungsraum. Es entstanden Konstellationen aus überdimensionalen Pinselstrichen, übertagen in organische Formen. Reliefs breiten sich in choreografischer Dichte wie Glieder oder Haare in den Raum aus. Mit der Werkgruppe Brushstrokes entstanden geschwungene oder geknotete überdimensionale Pinselstriche. Die Arbeiten aus Gesso, Modellierpaste und Marmorstaub wie Party Of Nine, Armpit Hair, Bangs und Corner Cut (alle 1972) sind mit einem Besen oder einem Mopp gezeichnet. Die überdimensionalen Reliefs zitieren in ihren einzelnen Elementen menschliche Proportionen.

 

Die Skulpturengruppe Land Of Lashes („Land der Wimpern“, 1975) und die Installation Land Of Lads („Land der Jungs“, 1976) fungieren als Pendants. Die Installation Land Of Lads besteht aus einer Vielzahl von Elementen. Das „Land der Jungs“ – als Pendant zum Weiblichen – steht auf durchlässigem Boden. Einzelne Leitern biegen und strecken sich wie eine Reihe junger Bäume. „Die Leiter ist ein kulturelles Werkzeug. Der Wald ist eine Quelle für Nahrung. Ich, ein kulturelles Tier, mache Werkzeug, um Wälder zu bauen“, so die Künstlerin in ihrem zu dieser Arbeit verfassten Text. Castoro entwickelte Land Of Lashes als serielle Anordnung überdimensionaler Wimpern – Fetische, die zu einer Serie bewegter, spinnenartiger Körper mutieren. Mit beiden Arbeiten kommentierte sie die verschiedenen Identitäten der Geschlechter und schuf Monumente fluider Gender-Formen.

 

In einer Tagebuchnotiz an Carl Andre, gewidmet an „C“ von „R“, bezeichnete sich Castoro als „paintersculptor“. Darüber hinaus verwies sie auf die Erweiterung (ihres) Körpers in die Architektur oder die Natur. Mit Beaver’s Trap (1977) – der Titel ist als Wortspiel zu verstehen („Castoro“ ist das italienische Wort für „Beaver“ [Biber]) – entwickelte Rosemarie Castoro die Inszenierung einer Vagina dentata – ein Symbol weiblicher Selbstermächtigung. Mit zugespitzten, in ihrer natürlichen Form belassenen, von der Rinde befreiten Ästen beleuchtet Castoro die Ambivalenz ihrer Rolle als Frau und Künstlerin. Es geht um das eigene Territorium. Die Installation steht in Verbindung mit Branch Dance (1974, 1977), einem ursprünglich als Land Art Projekt in Georgia einstanden „scuptural drawing“, und Athenian Palladian (1978), einem Tempel als Urhütte zwischen Geschichte und Gegenwart.

 

In Castoros künstlerischer Praxis ergibt ein einzelner Baustein zahlreiche Teilchen, die sich in verschiedenen Formen, Materialien und Techniken wiederfinden. Mit Mountain Range (2003–2006) überträgt Castoro das performative Prinzip in eine Gruppe aus Skulpturen, raumgreifenden Bögen und Organen aus Pinselstrichen, Vulven, die sie aus Stahlblech schnitt und schweißte. Die dabei suggerierte Falttechnik verweist auf die Kunst des Papierfaltens (Japanisch: Origami) oder medizinische Implantate aus Metall.

Seit den 1960er Jahren arbeitete Castoro im Atelier in der Spring Street in SoHo, das sie in den ersten Jahren gemeinsam mit Andre bewohnte und das zum Referenzsystem ihrer konzeptuellen Ordnung wurde. So diente der Raum als Folie für Studien zu ihren Arbeiten, wie ihre Zeichnungen von verschiedenen Konstellationen ihrer Werke zeigen. Ihre pointierten Texte, von Notizen bis zu konkreter Poesie, lassen die Leser*innen in ihre Denkmuster und Kommentare zu Kunst und Alltag eintauchen. In Love’s Time (1970) zeichnet die Künstlerin mittels Stoppuhr ihre Handlungen, Interaktionen und Gedanken rund von 26. Februar bis 1. März auf und dokumentiert ihr Leben in New York, gleichzeitig verarbeitet sie die Trennung von Andre.

Gruppenporträt mit Selbstauslöser im Atelier, New York, 1969 Rosemarie Castoro mit Carl Andre, Lawrence Weiner, Richard Long, Sol LeWitt, Robert Smithson, Jan Dibbets u. a. © The Estate of Rosemarie Castoro

Gruppenporträt mit Selbstauslöser im Atelier, New York, 1969
Rosemarie Castoro mit Carl Andre, Lawrence Weiner, Richard Long, Sol LeWitt, Robert Smithson, Jan Dibbets u. a.
© The Estate of Rosemarie Castoro

Zu Castoros Werk zu forschen bedeutet eine Zeitkapsel zu öffnen. Auf den Spuren ihrer Netzwerke mit Künstler*innen, die sich alle gegenseitig inspirierten, wird deutlich, dass es diese Verbindungen und Narrative sind, die Kunstgeschichte generieren.

Das Werk von Rosemarie Castoro ist in internationalen Sammlungen, wie jener des MoMA, New York und des Centre Pompidou, Paris vertreten. Durch Ankäufe der Österreichischen Ludwig-Stiftung ist es im Vorfeld der Ausstellung gelungen, Land Of Lads und Land Of Lashes als Dauerleihgaben in die MAK Sammlung Gegenwartskunst aufzunehmen.

Der österreichische Regisseur Werner Pichler, der Witwer der Künstlerin, der sie seit den 1980er Jahren begleitete, fungiert als Schnittstelle zwischen Institutionen und Kurator*innen. Das THE ESTATE ROSEMARIE CASTORO wird von Thaddeus Ropac vertreten.

Die Ausstellung ROSEMARIE CASTORO: Land of Lashes ist bis zum 1.10.2023 im MAK zu sehen.

Ein Beitrag von Bärbel Vischer, Kustodin MAK Sammlung Gegenwartskunst

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