Nach neuen Mustern: Enrico Bravi im Interview

24. November 2022

Insights

Das Plakat KM 60 des Grafikdesigners Univ.-Prof. Enrico Bravi zählt zu den 100 besten im Wettbewerb 100 BESTE PLAKATE 21. Deutschland Österreich Schweiz und ist derzeit in der gleichnamigen MAK Ausstellung zu sehen. Im Interview spricht Bravi über die Muster seiner neuen Software, die digitale Materialität von Bildern und wie er in der Entwicklung seiner Arbeiten vorgeht.

„Ich versuche, nichts als selbstverständlich anzusehen: Die gegebenen Limits zu akzeptieren, aber auch zu hinterfragen, die Spielregeln zu definieren, sie zu biegen, bis sie zu einer Triebkraft werden.“ (Enrico Bravi)

Grafik: Enrico Bravi
KM 60
Druck: Druckwerkstatt der New Design University
Drucktechnik: Siebdruck
Österreich
© Enrico Bravi/100 Beste Plakate e.V.

Ihr Siegerprojekt im Wettbewerb 100 BESTE PLAKATE 21. Deutschland Österreich Schweiz haben Sie für einen Vortrag (Re-printed matter, KM 60 years of work) des niederländischen Designers Karel Martens an der New Design University in St. Pölten gestaltet. Wie ist der Entwurf entstanden?

Als ich die Zusage von Karel Martens erhielt, war mir sofort klar, dass dies ein besonderer Moment war, der auf irgendeine Weise gefeiert oder zelebriert werden musste. So wie es für mich ein Privileg war, Karel und seine Arbeit den Studierenden vorzustellen.

Die Initiative dazu, ein Plakat zu entwerfen, entstand auch als stille Reaktion auf den Lockdown, den wir im Frühjahr 2021 erlebten. Das Anbringen der gedruckten Plakate in der fast leeren (oder geleerten) Universität war fast ein symbolischer, kathartischer Moment des „Widerstands“: das Bestehen auf den physischen Raum, auf das „real life“.

Für das Projekt beschloss ich, mich auf ein gemeinsames Forschungsthema zu stützen, das des Druckrasters, das KM und ich bereits unabhängig voneinander erforscht hatten, bevor wir uns 2005 an der „Werkplaats Typografie“ kennenlernten, wobei wir unterschiedliche gestalterische Wege und technische Lösungen verfolgten.

Das Ergebnis ist auf seine Weise eine Hommage, aber auch eine Referenz an die Arbeit vieler anderer Designer*innen in der niederländischen Tradition und darüber hinaus, mit Blick auf die Zukunft.

Aus konzeptioneller Sicht geht es um die Reproduzierbarkeit und die technischen Mittel, die sie ermöglichen, und im erweiterten Sinne auch darum, wie die „Qualität“ (oder Beschaffenheit) von Bildern die Art und Weise beeinflusst, wie wir ihren Inhalt wahrnehmen und interpretieren. Es ist eine Reflexion über die digitale Materialität von Bildern und über die Prozesse der Reproduktion und Darstellung von Daten, die der Übertragung von Informationen zugrunde liegen.

Das Plakat besteht ausschließlich aus ineinander verschränkten Dreiecken und lassen die Sujets dreidimensional wirken. Für die Gestaltung haben Sie ein neues Softwareprogramm entwickelt. Wie funktioniert diese Software?

Richtig, es ist ein Skript, das ich in „Processing“ entwickelt habe. Das gerasterte Sujet ist ursprünglich zweidimensional und besteht ausschließlich aus zwei Buchstaben (KM), den Initialen, und zwei Ziffern (60), den Berufsjahren. Ein Gitter aus Elementen, die in Zeilen und Spalten gegliedert sind, genau wie die Pixel eines digitalen Bildes oder die Punkte eines Druckrasters. Jede Einheit besteht aus einem schwarzen Dreieck und einem Dreieck in der gleichen Farbe wie der Hintergrund und ist daher „unsichtbar“. Durch die unterschiedliche Ausrichtung der einzelnen Einheiten, die sich teilweise überschneiden, erzeugen die beiden Dreieckstypen einen irisierenden Effekt. Ein genauerer Blick auf die animierte Version vermittelt ein besseres Verständnis für diesen Prozess.

Das Ausgangsbild in „Schwarz-Weiß“ wird unscharf dargestellt, um Grauwerte zwischen der Form und dem Hintergrund zu erzeugen. Ein niedriger Grauwert erzeugt eine kleine Form, hohe Grauwerte größere Formen, genau wie es bei der Reproduktion von Bildern für den Druck geschieht. Die dreidimensionale Wirkung ist das „indirekte“ (zunächst unbeabsichtigte, unerwartete) Ergebnis dieses Prozesses, durch den die Typografie in jeder Hinsicht zu einem Bild wird, zu einer Art echter ‚Landkarte‘ oder topografischer Karte.

Das Programm erlaubt es auch, verschiedene Arten der Rasterung anzuwenden und eine Reihe von Parametern zu ändern. Es ist ein Thema, das mich seit vielen Jahren begleitet und das ich auch in Zukunft fortsetzen werde: ein sich ständig weiterentwickelnder Prozess, kein Zielpunkt.

Illustration des Druckrasters
© Enrico Bravi

Bereits zum zweiten Mal wurde ein Plakat von Ihnen als eines der besten Plakate des Jahres ausgezeichnet. Was macht gute Plakatgestaltung Ihrer Meinung nach aus? Wie gehen Sie in Ihrer Arbeit vor?

Normalerweise versuche ich, die Anforderungen und Beschränkungen des Projekts zu verstehen und neu zu gestalten. Das mag wie ein Widerspruch erscheinen, aber je mehr, desto besser. Ich versuche, nichts als selbstverständlich anzusehen: Die gegebenen Limits zu akzeptieren, aber auch zu hinterfragen, die Spielregeln zu definieren, sie zu biegen, bis sie zu einer Triebkraft werden.

Druckverfahren spielen in meiner Arbeit eine wesentliche Rolle, schließlich bin ich in einer Kunstdruckerei aufgewachsen. Lange Zeit waren technische Beschränkungen ein wesentlicher, unvermeidlicher Bestandteil des Graphikentwurfs; seit ein paar Jahrzehnten sind sie es nicht mehr. Alles ist in hoher Auflösung reproduzierbar. Wenn dieser Prozess nicht auch reflektiert wird, führt er zu einer Verarmung und nicht zu einer Stärkung der Gestaltung.

Die Nah- und Fernwirkung ist der Aspekt, der mich am meisten interessiert, weil er eine absolute Besonderheit der Plakate ist. In den meisten Fällen beträgt der Abstand zwischen Betrachter*in und Bild weniger als einen Meter. Die Betrachtung eines Bildes aus mehreren Metern Entfernung eröffnet eine Reihe von Möglichkeiten und Fragen im Zusammenhang mit den Prozessen der Wahrnehmung und der Reproduktion und stellt das Werk in einen Dialog oder einen Kontrast zu dem Raum, in dem es sich befindet.

So entstehen verschiedene Leseebenen, die in ein und demselben Projekt nebeneinander existieren und sich je nach Position der Betrachter*innen gegenüber verändern.

In meiner Erstsprache ist der Begriff „manifesto“ (italienisch für Plakat) sowohl ein Adjektiv als auch ein Substantiv. Es ist ein Wort, das nicht zufällig auch in anderen Sprachen mit breiteren Bedeutungen aufgegriffen wurde, die alle sehr stark und evokativ, identitätsbezogen und sogar politisch sind.

Das deutsche Adjektiv plakativ ist dagegen in einer Übersetzung nicht leicht wiederzugeben. Das scheint eine sprachliche Besonderheit des Deutschen zu sein, die ich sehr mag.

MAK-Ausstellungsansicht, 2022
100 BESTE PLAKATE 21
Deutschland Österreich Schweiz
MAK-Kunstblättersaal
© MAK/Georg Mayer

Zum Plakat KM 60 haben Sie auch ein moving poster entwickelt. Ist der häufigere Einsatz solcher digitalen Methoden Ihrer Einschätzung nach auch die Zukunft der Plakatgestaltung?

Im speziellen Fall von KM 60 war die Möglichkeit, über das gedruckte Sujet hinauszugehen und ein bewegliches Plakat zu entwickeln, in gewisser Weise bereits im Designprozess und in der von mir entwickelten Software enthalten. Die verschiedenen Parameter (Frequenz, Form, Größe) konnte ich in Echtzeit steuern; darunter auch die Bewegung (Drehung) der Elemente.

Der Aspekt, dass es eine statische (gedruckte) und eine bewegte (digitale) Version gibt und somit die beiden Dimensionen des Trägers um die zeitliche Dimension ergänzt werden, scheint mir eine interessante und nie auszuschließende Gestaltungsmöglichkeit zu sein. Die Schwierigkeit besteht gerade darin, ein Gleichgewicht zwischen den beiden Modi zu erreichen, quasi einen Dialog zwischen den beiden Trägern, Papier und digital, die sich gegenseitig ausgleichen.

Ich hoffe auf Verschränkung und Bereicherung dieser beiden Welten. Um diesen Unterschied zu verstehen, reicht es meiner Meinung nach aus, die Ausstellung zu besuchen und sich die verschiedenen Druckergebnisse genauer anzuschauen.

Die Tatsache, dass ein Teil der Inhalte auf Bildschirmen und nicht mehr auf Papier gezeigt wird und werden wird, scheint mir unvermeidlich. Ich muss allerdings zugeben, dass ich kein großer Fan von Bildschirmen an öffentlichen Orten bin. Zum einen stellt sich die Frage nach der Art der Inhalte, die in verschiedenen spezifischen Kontexten gezeigt werden können, und zum anderen stellt sich die Frage nach der Verwaltung und Nutzung des digitalen öffentlichen Raums. Und wer bestimmt darüber?

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In Ihrer Lehre und Forschung beschäftigen Sie sich auch sehr mit der Visualisierung von komplexen Informationen und Daten. Was macht gute Datenvisualisierung aus? Welchen Einfluss haben diese auf Ihre Arbeit?

Wenn ich die Arbeit, die hinter dem Plakat KM 60 steckt, in einem Satz zusammenfassen müsste, würde ich sagen, dass es – noch bevor das als Kommunikationsmittel interpretiert wird – grundsätzlich um eine Visualisierung quantitativer Daten geht, nämlich der Graustufenwerte, die die Größe der einzelnen Elemente bestimmen. Die einzige andere visuelle Variable (die Drehung) wurde in Korrelation mit der Bewegung eingeführt und ist an sich ein formales Mittel, das nicht mit den Daten verbunden ist. In diesem Fall war es aber unter dem Gesichtspunkt der grafischen Wirkung gerechtfertigt.

Seit meiner Berufung als Professor an die New Design University St. Pölten (NDU) 2015 habe ich die Möglichkeit gehabt, einen Schwerpunkt auf Informationsdesign zu setzen und weiterzuentwickeln. Mehr noch als früher ist die Lehr- und Forschungstätigkeit zu einem wesentlichen Bestandteil meines Zugangs zu meinem Beruf und zu dem gesellschaftlichen Kontext, in dem er sich manifestiert, geworden.

Eines der aktuellen Projekte, an dem ich mit Student*innen der NDU gearbeitet habe, hat mit dem Wasserkreislauf zu tun: ein sehr wichtiges Thema für die Zukunft unseres Planeten, das Auswirkungen auf fast alle Bereiche unseres Lebens hat, aber auch mit sehr spezifischen Problemen in Bezug auf verschiedene Orte auf dem Planeten.

In diesem Bereich, der sich zwischen der traditionellen Grafik und dem Informationsdesign bewegt, interessiere ich mich für das Verhältnis der Gesellschaft zu den Daten, auf die wir nicht mehr verzichten können: für ihre Visualisierung, für ihre Erforschung und Erklärung, und ganz grundsätzlich für die Herausforderung, Komplexität zu vermitteln.

Enrico Bravi ist seit 2015 Professor für Grafik- und Informationsdesign an der Fakultät Gestaltung an der New Design University St. Pölten (NDU) und als selbstständiger Designer in Wien tätig.

Das Interview führte Ulrike Sedlmayr, MAK Presse und Öffentlichkeitsarbeit

Die Ausstellung 100 BESTE PLAKATE 21. Deutschland Österreich Schweiz, eine Kooperation des MAK und des Vereins 100 Beste Plakate e. V., ist bis zum 5. März 2023 im MAK Kunstblättersaal zu sehen.

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