11. Oktober 2024
Rainald Franz
11. Oktober 2024
Rainald Franz
Seit seinem zwanzigsten Lebensjahr verfolgt Adam Štěch ein Fotoprojekt, das ihn mittlerweile durch 40 Länder rund um den Globus geführt hat: Leidenschaftlich dokumentiert er oft wenig beachtete Details von Architekturen der Moderne. Rainald Franz, Kurator der derzeit laufenden MAK Ausstellung ELEMENTE. Adam Štěchs Blick auf architektonische Details, skizziert, warum Adam Štěchs konzentrierter Blick auch aus wissenschaftlicher Sicht sehr wertvoll ist.
Architektur und Innenraumgestaltung der Moderne nach 1900 sind geprägt von einer Entwicklung vom „Garnitur-Denken“ hin zur „Typenbildung“ und schließlich zur „Typologie“. Zunehmend tritt das Detail in der Gestaltung in den Vordergrund. Was nun verlangt wird, sind Funktionalität und Schönheit der Form. Reformbewegungen wie der „Werkbund“ oder das „Bauhaus“ entwickeln entsprechende Musterkataloge und veranstalten Ausstellungen wie Der gute billige Gegenstand (1931) im Österreichischen Museum in Wien. Die „Gute Form“, die es anzustreben gilt, wird zum gängigen Schlagwort. Funktionale und zugleich ästhetisch befriedigende Prototypen des seriellen Gestaltens wie die Frankfurter Küche (1926) von Margarethe Schütte-Lihotzky entstehen.
Ab den 1950er Jahren tritt wieder eine Veränderung ein. Die Architektur der Moderne wird kommerzialisiert und ideologisiert, individuelle Lösungen von Gestalter*innen und für Bewohner*innen werden rar. Unter dem Druck der Kosten bleibt keine Zeit für besondere Details. Nur bei speziellen Projekten wie Künstler*innenhäusern, Repräsentationsbauten und durch das Ingenium der Entwerfer*innen erhalten sich die besonderen Details in internationalen Bauten der Moderne und verleihen ihnen einen unverwechselbaren Charakter.
Für den österreichisch-schwedischen Architekten und Designer Josef Frank (1851–1921), entstehen „…brauchbare Typen in der Regel anonym und glücken ohne jeden besonderen Formwillen, der aber latent immer vorhanden ist. Der bewusste Formwillen entstammt noch der Zeit, da ein jeder Gegenstand im Hause zum Kunstwerk erhoben werden sollte; es fehlt diesen Dingen deshalb jene angenehme Banalität, die sie allgemein verwendbar machen würde. Denn Unpersönlichkeit ist das wichtigste formale Kennzeichen des Gegenstandes, der je zu einem Typus werden kann…“ (Josef Frank, Innendekoration. Mein Heim, mein Stolz; die gesamte Wohnungskunst in Bild und Wort, 43, 1932, S. 224.)
Ludwig Mies van der Rohe (1886–1969), eine der prägenden Persönlichkeiten des Bauhauses in Weimar und Wegbereiter der klassischen Moderne, würdigt die zentrale Bedeutung der Details und stützt sich für seinen Architekturzugang auf Aby Warburgs Diktum: „Der liebe Gott steckt im Detail“.
Eine junge Generation von Architekturhistoriker*innen trägt dem Phänomen der Konzentration auf die Einzelform in der Moderne mit einschlägigen Forschungsprojekten und Publikationen Rechnung. Zu ihnen zählt der 1986 in Děčín, Tschechien geborene Architekturtheoretiker, Autor und Kurator Adam Štěch. Štěch absolvierte den Masterstudiengang Kunstgeschichte an der Karls-Universität in Prag und arbeitet seit 2009 als Redakteur der in Prag erscheinenden Zeitschrift Dolce Vita. Als Mitbegründer des kreativen Kollektivs OKOLO realisiert er seit 2009 Publikations- und Ausstellungsprojekte in Tschechien und im Ausland.
Die Idee zur Ausstellung ELEMENTE entstammt einer kleinen Präsentation, die 2017 im Auftrag der Kuratorin Jane Withers im Brompton Design District in London stattfand. Damals präsentierte Adam Štěch erstmals 400 Fotografien von architektonischen und innenarchitektonischen Details. Im selben Jahr entstand das erste Buch mit Sally Fuls und Robert Klanten Inside Utopia. Visionary Interiors and Futuristic Homes.
Seitdem hat Adam Štěch seine Recherchen vertieft und ist um die Welt gereist, um modernistische Häuser zu fotografieren. Einen ersten umfassenden Einblick in sein fotografisches Archiv gab Štěch mit der im Prestel Verlag erschienenen Publikation Modern Architecture and Interiors (2020). Der Bildband umfasst auf rund 900 Seiten modernistische Architekturen und architektonische Details aus 29 Ländern, die er über einen Zeitraum von 15 Jahren aufgenommen hat. 2024 erhielten Adam Štěch und sein Kollektiv OKOLO die Einladung, das Archiv der Architekturdetails in erweiterter Form in der Dropcity für den Salone del Mobile in Mailand auszustellen. Ausgehend von dieser Präsentation wurde das Projekt für das MAK in Wien entwickelt.
Die Ausstellung ELEMENTE im MAK ist eine Hommage an Architektur, Design und Gesamtgestaltung. Sie zeigt Fotografien, die sich als Atlas architektonischer und innenarchitektonischer Details präsentieren. In Gruppen geordnet, frei von Personen im Bild, finden sich dokumentarisch festgehalten: Beleuchtungskörper, Sitzgelegenheiten, Stauräume, Tische, Geländer, Türen, Griffe, Fenster, Böden, Wände, Heizungen und andere dekorative oder funktionale Elemente am Ort ihrer Verwendung. Diese werden als Papierdrucke auf schlichten Aluminiumrahmen präsentiert und nach typologischen Kriterien in Sektionen angeordnet. Die Gliederung ermöglicht es den Betrachtenden, die formale Vielfalt in der Architektur der Moderne vergleichend zu untersuchen und die kontextuellen Bedingungen und Veränderungen in der Entwicklung der Architektur und des Designs des 20. Jahrhunderts weltweit wahrzunehmen. Štěch bringt mit dieser außergewöhnlichen Anordnung systematisch formale Unterschiede und Ähnlichkeiten innerhalb der Moderne zum Vorschein und erstellt damit auf seine Art eine „Anleitung zur Aufmerksamkeit“.
ELEMENTE zeigt vergleichend Details aus Bauten von Gio Ponti, Frank Lloyd Wright, Le Corbusier und Adolf Loos sowie Beispiele von vergessenen und wenig bekannten Architekt*innen. Nur Spezialist*innen der modernistischen Architektur kennen Huib Hoste, Ico und Luisa Parisi, Jaroslav Grunt, Gregori Warchavchik, Joao Artacho Jurado und ihre Bauten in Europa, Südamerika, Asien. Adam Štěch verfolgt die Vision, das durch fortlaufende Forschungsreisen stetig wachsende Archiv (innen-)architektonischer Details in einem Bildatlas festzuhalten. Sein Ziel ist es, die größte Datenbank mit einzigartigen Entwürfen von spezifischen Gebäuden und Innenräumen zu schaffen, die je von einer einzelnen Person erfasst wurden.
Als bekennender Fan der Wiener Moderne hat er für die Ausstellung im MAK eine eigene Sektion mit Beispielen aus Wien zusammengestellt. ELEMENTE zeigt diese Details sowohl als Aspekte der Architektur als auch als Objekte von einzigartigem künstlerischem Wert, die für bestimmte Orte und Zwecke entworfen wurden. Die Auswahl würdigt das Konzept des Gesamtkunstwerks in der Moderne und bietet eine Bestandsaufnahme des breiten Spektrums an Fähigkeiten, die Architekt*innen vom Jugendstil bis zur Moderne und darüber hinaus eingesetzt haben. So gesehen kann man Adam Štěchs Bildatlas auch als einen kommunikativen Akt der Begegnung verstehen: mit den architektonischen Positionen und dem Leben der Architekt*innen sowie mit den Personen, die dem Fotografen Zutritt zu den Bauten gewährten.
Doch was macht ein gelungenes architektonisches oder innenarchitektonisches Detail in der Architektur der Moderne aus? Soll es auffallen, herausstechen oder eher in der Gesamtgestaltung aufgehen, soll das Serielle oder Individuelle überwiegen? Ist die Vereinzelung in der fotografischen Dokumentation wie bei Adam Štěch legitim? Der Architekturhistoriker Edward Ford meinte: „Der Triumph der Moderne war der Triumph des Gleichgewichtsprinzips über das Stütze-Last-Prinzip…Viele der typischen Details der Moderne waren auf diese Umkehr der Einstellung zurückzuführen, und dies ist der Grund, warum das typische moderne Detail so oft die Umkehrung eines traditionellen Details ist, denn es will aufheben, was das andere zu bekräftigen versucht.“ (Edward R. Ford, Das Detail in der Architektur der Moderne, Basel 1994, S. 5.)
Der Architekt Adolf Loos, Landsmann von Adam Štěch und Teil seines fotografischen Detailatlas, fasste das Problem wie folgt zusammen: „Wie schwer ist es doch, für türen oder fenster gute beschläge zu finden! Renaissance-, barock- und rokokoSchwielen haben wir nacheinander durch die türgriffe bekommen. Gibt es doch in Wien nur eine ordentliche türklinke, die mir erreichbar ist und zu der ich immer wallfahre, sobald ich in ihre nähe komme. Sie befindet sich in dem neuen hause auf dem Kohlmarkt (atelier Zwickel) und entstammt der künstlerhand professor Königs. Aber nicht hingehen, mein lieber leser, sie würden mich sonst im verdachte haben, daß ich sie foppen wollte.“ (Adolf Loos, Der neue Stil und die BronzeIndustrie, 29. Mai 1898, wieder abgedruckt in: ders.: Ins Leere Gesprochen, Zürich, 1921, S. 48)
Der konzentrierte Blick, wie in ELEMENTE. Adam Štěchs Blick auf architektonische Details exemplifiziert, lohnt sich also allemal.
Die Ausstellung ELEMENTE. Adam Štěchs Blick auf architektonische Details ist noch bis zum 2.3.2025 im MAK Kunstblättersaal zu sehen.
Ein Beitrag von Rainald Franz, Kustode MAK Sammlung Glas und Keramik.