Architektur und Mode: Anna Muthesius und das Eigenkleid der Frau

23. Februar 2023

Insights

Eine Schenkung von Kleidung und Textilien aus dem Nachlass des Architekten, Modedesigners und Ausstellungsmachers Bernard Rudofsky und seiner Frau Berta bot Studierenden der Uni Wien Anlass, sich im Rahmen einer von MAK Kustodin Lara Steinhäußer geleiteten Lehrveranstaltung dem Thema „Architektur und Mode“ zu widmen. Die Student*innen Doris Jagersbacher-Kittel und Elisa Schacherreiter geben für den MAK Blog Einblick in ihre gewonnenen Erkenntnisse zu Anna Muthesius, der Ehefrau des Architekten und Werkbund-Gründers Hermann Muthesius, und ihrem Eigenkleid.

Ein Kleid für sich allein – Das Eigenkleid der Anna Muthesius (1870–1961) und die Forderung nach einem Freiraum für Frauen   (Doris Jagersbacher-Kittel)

Bereits im Oikos der Griechen wurde das Haus zum Inbegriff des Wirkungsfeldes der Frau, eine Verknüpfung, die im 19. Jahrhundert mit der Bezeichnung Hausfrau festgeschrieben wurde. Während die Welt außerhalb des Hauses den männlichen Aktionsraum darstellt, werden Frau und häuslicher Raum zu einer Einheit verschmolzen. Der weibliche Bewegungsradius begrenzt sich durch die sie umgebenden Mauern. Dies findet sich bereits im Mittelalter im ursprünglich neutralen, die Frauengemächer bezeichnenden Begriff des Frauenzimmers.

Als Hausfrau zieht Anna Muthesius 1896 mit ihrem Mann, dem Architekten Hermann Muthesius, nach London, wo dieser als technischer Attaché des Preußischen Handelsministeriums tätig ist. Dort kommt die ausgebildete Sängerin und nunmehr Mutter von fünf Kindern in Kontakt mit der Reformbewegung. Unter dem Einfluss der englischen Arts & Crafts-Bewegung entwirft die Autodidaktin ein Reformkleid, das sie als Eigenkleid bezeichnet.

Anna Muthesius in einem Kleid aus grüner Libertyseide mit Aufnäharbeit in lila Atlas<br /> in: Anna Muthesius, Das Eigenkleid der Frau, Krefeld 1903, Abbildungsteil<br /> © MAK

Anna Muthesius in einem Kleid aus grüner Libertyseide mit Aufnäharbeit in lila Atlas
in: Anna Muthesius, Das Eigenkleid der Frau, Krefeld 1903, Abbildungsteil
© MAK

Wurde Kleidung immer schon als Ausdruck des sozialen Status der Träger*innen und Spiegel der Gesellschaftsordnung gesehen, geht die neuere Kulturtheorie davon aus, dass Mode nicht nur ein Zeichensystem ist, sondern sich auch als Ergebnis menschlichen Handelns im Raum zeigt. So schafft sich der Körper durch und in Kleidern räumliche Präsenz. Die Kleider wiederum fungieren als räumliche Gebilde und werden im Raum mittels ihrer Träger*innen bewegt. Der zunächst neutrale Raum wird durch das soziale und symbolische Handeln zum konkreten Ort, dem Lebensraum. Dadurch aber erleben Menschen nicht nur den Raum, sondern gestalten diesen durch ihre kulturellen Handlungen, nämlich das Tragen von Kleidern. (Gertrud Lehnert, Mode als Raum, Mode im Raum. Zur Einführung, in: dies. (Hg.in), Räume der Mode, München 2012, S. 7­–24.)

Die Verbindung von Frau, Interieur und Textil findet mit den Künstlerkleidern des 19. Jahrhunderts einen Höhepunkt, wenn Künstler die Frau in dem von ihnen entworfenen Kleid in die ästhetische Gestaltung miteinbeziehen. Henry van de Velde etwa ordnet seine Jugendstil-Entwürfe einem Gesamtkonzept unter, in dem der Frau die Rolle eines zu dekorierenden Objektes zukommt, welches ebenso gestaltet wird wie die Architektur, Möbel oder eine Türklinke. Der Unterschied zum Möbelstück liegt darin, dass sie sich im Raum bewegen kann. Und genau dieses Moment der Bewegung im Raum greift die neuere Kulturtheorie auf.

Um die Trägerin eines Kleides aus der passiven Rolle der Dekorierten zu lösen, wird es für Anna Muthesius essenziell, dass die Frau „die Sache von vornherein selbst in die Hand“ nimmt und „ihr eigener Künstler“ wird. Ihre vom zentralen Begriff der Individualität der Trägerin geprägte Theorie publiziert Muthesius 1903 in ihrem Essay Das Eigenkleid der Frau.

Das Eigenkleid bedeutet sowohl gesundheitliche als auch ideelle Emanzipation aus dem Korsett. Es soll als Grundlage für eigene Ideen dienen. Wenig Dekor und vor allem Funktionalität und Bewegungsfreiheit bilden die Basis für Entwürfe, die nicht mehr von Künstlern oder Modeschöpfern aus Paris stammen. Jede Frau soll von nun an ihre eigenen individuellen Kleider entwerfen und fertigen. Immer noch besteht der Anspruch, zu gefallen und ein eigenes Schönheitsbedürfnis zu befriedigen, körperliche Vorzüge zu unterstreichen und Mängel zu kaschieren. Muthesius erarbeitet dazu einen Kriterienkatalog und gibt Anweisungen, was zu tun sei, wenn frau etwa zu groß, zu klein, zu dick oder zu dünn ist. Dennoch wird das Kleid bei ihr vor allem zum Ausdruck der geistigen Emanzipation der Frau und zur Befreiung vom fremdbestimmten Modediktat, zur Befreiung vom Sein als dekoriertes, willenloses Objekt hin zu Selbstermächtigung und Selbstbestimmung. Das Eigenkleid wird zum Akt der Geistesarbeit und die nun intellektuell agierende Frau löst sich damit auch von dem ihr zugedachten Raum, wird bewegungs- und damit handlungsfähig und unabhängig. Wie wichtig die Aneignung des Raumes für die Emanzipation der Frauen war, zeigt sich auch am Beispiel des ausschließlich von Frauen konzipierten Pavillons Haus der Frau anlässlich der Kölner Werkbundausstellung 1914, für den die inzwischen äußerst erfolgreiche Anna Muthesius den Vorsitz übernommen hatte.

Anna Muthesius hat mit ihrer Theorie des Eigenkleides einen wesentlichen Beitrag zum Aufbrechen der tradierten Geschlechterstrukturen und zur gesellschaftlichen Neuordnung geleistet. Denn das Eigenkleid ist mehr als ein modischer Entwurf. Es ist ein Akt der Selbstermächtigung der Frau, sich aus dem Raum, der ihr als Hausfrau zugedacht war, zu emanzipieren.

1929 wird Virginia Woolf in ihrem Essay Ein Zimmer für sich allein genau diesen Gedanken für die vielleicht wichtigste Schrift der Emanzipationsbewegung des 20. Jahrhunderts aufgreifen, wenn sie die Forderung nach einem eigenen Zimmer als Raum der intellektuellen und unabhängigen Entfaltung der Frau zentral setzt. Ein Vierteljahrhundert zuvor hatte Anna Muthesius mit dem Eigenkleid bereits den Anspruch auf ein Kleid für sich allein erhoben und die Eroberung des Raumes damit durchaus eigenwillig eingeleitet.

Anna Muthesius, Das Eigenkleid der Frau, Umschlag, Krefeld 1903<br /> © MAK

Anna Muthesius, Das Eigenkleid der Frau, Umschlag, Krefeld 1903
© MAK

Wer entwirft eigentlich wessen Kleidung? Eine Reflexion zur geschlechterspezifischen Rollenverteilung in der Mode   (Elisa Schacherreiter)

Die Schenkung von Berta Rudofsky an das MAK bietet auch eine interessante Möglichkeit für eine Reflexion über die Rolle der Frau in der Kunst. Im Bereich der angewandten Kunst ist nicht nur die Frage nach dem Künstler oder der Künstlerin interessant, sondern auch die Frage nach dem Konsumenten beziehungsweise der Konsumentin. Im Bereich der Mode formuliert sich die Frage so: Wer entwirft Kleidung für wen? Die Rollenverteilung gestaltet sich vor 100 Jahren ähnlich wie heute, oberflächlich formuliert, im Großteil der Fälle so: Männer entwerfen für Frauen. …und wer produziert eigentlich die Kleidungsstücke?

Diese Frage stellte sich Anna Muthesius auch in ihrer theoretischen Schrift Das Eigenkleid der Frau. Sie schließt damit an Reformbewegungen dieser Zeit im Bereich der Mode an. Die Frauen befreien sich von dem gesundheitsschädlichen Korsett und die Funktionalität von Kleidung rückt mehr und mehr formgebend in den Vordergrund. Das Eigenkleid der Frau ist emanzipatorisch zu betrachten. Es geht um die Eigenermächtigung der Frau. Sie soll selbst entscheiden, was sie trägt. Dies steht im Gegensatz zur Auffassung anderer Zeitgenossen wie Henry van der Velde. Er betrachtet die Frau eher als Dekoobjekt im Raum, ähnlich wie ein Sofa, welchem man verschiedene Überzüge anlegen kann. Außerdem kann man die Position des Dekoobjektes im Raum nach Belieben ändern.

Die Stellung einer kunstschaffenden und theoriebildenden Frau zu Beginn des 20. Jahrhunderts war schwer erkämpft. Dieser Faktor hängt mit den damaligen Auffassungen der Rolle der Frau zusammen. Diverse Theoretiker*innen versuchen von verschiedenen Eigenschaften der Geschlechter auf eine natürlich gegebene Rollenverteilung zwischen Mann und Frau zu schließen. Karl Scheffler schreibt in Die Frau und die Kunst im Jahr 1914, dass Frauen physiologisch nicht für solche Felder wie Wissenschaft oder Design geeignet sind. Ihr Gehirn sei zu klein.

Das Eigenkleid der Frau stellt eine Art Anleitung dar, wie eine Frau ihr Kleid entwerfen sollte. Außerdem soll jede Frau in der Lage sein, dieses Kleid auch selbst zu nähen. Vergleicht man die Theorien von Anna Muthesius mit denen ihres Mannes, welcher ein wichtiger Architekturtheoretiker der Zeit war, sind einige Überschneidungen erkennbar. Hermann Muthesius setzt drei Hauptansprüche an die Architektur und Innenraumgestaltung: 1. Einfachheit und Ordentlichkeit; 2. Effizienz, Gemütlichkeit und Funktionalität und 3. Gesundheit. Diese drei Grundsätze findet man auch bei Anna Muthesius in Bezug auf Kleidung. Die Freiheit von dem Korsett bietet einen großen funktionellen wie auch gesundheitlichen Vorteil. Zu viel ornamentale Dekoration wird abgelehnt. Weiters ist interessant, dass Hermann Muthesius ebenfalls eine praktische Anleitung, jedoch im Hinblick auf das Hausbauen, schreibt: Wie baue ich mein Haus im Jahr 1919. Ein wichtiger Unterschied in der Theorie der beiden ist an dieser Stelle zu markieren. Hermann Muthesius publizierte über 500 schriftliche Werke, Anna Muthesius nur eines. Vielleicht wurde in der Forschung deshalb der vermutlich maßgebliche Einfluss von Anna Muthesius auf ihren Gatten noch nicht beleuchtet.

Einige Jahrzehnte später sind die Männer in der Modeindustrie noch immer tonangebend. Bernard Rudofsky war ein revolutionärer Modeschöpfer und Architekt, welcher ebenfalls theoretische Auseinandersetzungen verfasste. Er beschäftigt sich schon in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts mit der geschlechterspezifischen Zuschreibung von Kleidung. Warum dürfen Männer keine Röcke tragen? Solche Gedanken zur Gleichberechtigung beziehen sich nur auf Kleidung. Über die Rolle der Frau im Alltag wird kein Wort verloren. Bernard Rudofsky wurde Zeit seines Lebens von seiner Frau Berta begleitet. Sie plante die Reisen der beiden und fertigte Prototypen der Entwürfe ihres Mannes. Es kann also durchaus behauptet werden, dass Berta Rudofsky einen Einfluss auf das Schaffen ihres Mannes hat. Inwieweit sie an den Entwürfen und Texten ihres Mannes mitarbeitete, ist bis heute relativ unausgearbeitet.

 

Beiträge von Doris Jagersbacher-Kittel und Elisa Schacherreiter

Die Beiträge entstanden im Rahmen der von Lara Steinhäußer, Kustodin der MAK Sammlung Textilien und Teppiche, geleiteten Lehrveranstaltung „Architektur und Mode“ im Wintersemester 2022/23 am Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien. Sie behandelte die theoretischen Grundlagen und künstlerischen Positionen zum Thema von Mitte des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts und gewährte auch Einblick in den Arbeitsalltag einer Kuratorin.

Am 6 Juli erscheint ein weiterer Blogbeitrag zum Thema der Lehrveranstaltung.

Die Ausstellung SAMMELN IM FOKUS 10: Textile Objekte aus dem Besitz von Berta und Bernard Rudofsky wird von 30. August bis 12. November 2023 im MAK Forum zu sehen sein.

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