Arabisches Zimmer: Der „Orient“ im Flow

10. November 2021

Forschung & Sammlung

In einem weiteren Beitrag zur MAK-Blogserie anlässlich des Jubiläums 150 Jahre MAK-Gebäude am Stubenring gibt Mio Wakita-Elis, Kustodin der MAK-Sammlung Asien, einen Einblick in das ehemalige Arabische Zimmer im MAK.

Zwischen April 1883 und Dezember 1931 war im 1. Obergeschoß des Museumsgebäudes das sogenannte Arabische Zimmer eingerichtet, das eine orientalische Stimmung atmosphärisch einfing und eine Raumausstattung im romantisierenden „orientalischen Stil“ zeigte. Bis August 2021 war hier das Sekretariat der ehemaligen MAK-Direktion angesiedelt.

 

Für den Entwurf der Raumgestaltung waren zwei Prager Architekten verantwortlich: Franz Schmoranz (František Schmoranz d. J., 1845–92) und Johann (Jan) Machytka (1844–87). Vor allem Schmoranz war damals für seine Expertise für islamische Baukunst und Ornamentik bekannt, die er sich während seiner Studienreisen in islamische Länder angeeignet hatte. Beide Architekten, die seit 1872 in der Apfelgasse in Wien ein gemeinsames Architekturbüro betrieben, sind heute auch als Designer für die Serie orientalisierender Gläser der Firma J. & L. Lobmeyr  bekannt: in Ornamentik, Farbigkeit und Dekortechnik in Gold und Emailfarben greifen sie dabei auf Vorbilder aus dem islamischen Kulturraum zurück. Schmoranz war bereits in den späten 1860er Jahren am Bauprojekt des Khedivenpalastes in Ismailia/Ägypten beteiligt und gestaltete im Auftrag des Khediven die Ägyptische Baugruppe auf der Wiener Weltausstellung 1873, u.a. das sogenannte Arabische Wohnhaus mit insgesamt siebzehn „bürgerlichen“ Wohnräumen.

Flakon, nach Entwurf von J. Machytka und F. Schmoranz

Flakon, nach einem Entwurf von J. Machytka und F. Schmoranz für J. & L. Lobmeyr, 1878,
Glas mit Email- und Golddekor
© MAK

 ORIGINALZUSTAND

Aufgrund dürftiger Aufzeichnungen gibt es keine gesicherten Erkenntnisse zum Originalzustand des Arabischen Zimmers. Wir sind auf wenige erhaltene Fotografien (aufgenommen vor 1928) und Zeichnungen aus dem Jahr 1908 angewiesen, um ein konkretes Bild der Raumgestaltung zu gewinnen: wie Entwurfszeichnungen und den Gesamtplan des Zimmers von Schmoranz und Machytka , oder teils aquarellierte Skizzen des Arabischen Zimmers des jungen Architekten Le Corbusier (mit eigentlichem Namen Charles-Édouard Jeanneret, 1887–1965).

Die Räumlichkeit — 4,2 m breit, 6,5 m lang, 2,7 m hohe Wände mit Holz getäfelt — wurde als ʿa, ein zweiteiliges Hauptgemach einer wohlhabenden Familie in einem ägyptischen oder syrischen Wohnhaus, konzipiert. Die Decke wurde vermutlich ausschließlich mit mehrschichtigem, ornamentiertem und farbig bemaltem Holzdekor verziert. Der Museumsführer von 1901 gibt einen ersten guten Eindruck des Arabischen Zimmers: „ORIENTALISCHES ZIMMER. Das orientalische Zimmer, rechts neben der Eingangsthür zur Bibliothek gelegen, soll die Ausstattung eines Wohnraumes im Oriente zur Anschauung bringen. In die Wände sind Holzschränke mit geschnitzten Füllungen eingesetzt und zwei mit Holzgittern verschlossene Fenster eingebrochen. Unter dem Fenster eine maurische Wandétagère. Die Bänke in den Fensternischen sind mit Daghestan-Teppichen und tambourirten Seidenpolstern belegt, der Fussboden mit einem Smyrna-Teppiche, in dessen Mitte ein Tabouret mit Kaffeeservice. Von der Stalaktitendecke hängt eine messingene Moschee-Ampel aus Damaskus herab.“

 

OPTISCH WIE HAPTISCH EIN PRACHTSTÜCK

Das Arabische Zimmer wurde vom Museum selbst als „eine in hohem Grade gelungene Schöpfung des Künstlers“ und als „coloristisch so außerordentlich stimmungsvoll“ gepriesen. Die Farbpracht und das Licht-und-Schattenspiel des gesamten Raumensembles dürften imponierend gewesen sein.

 

Die dunkle Holzvertäfelung und die Möbel wurden mit lichtreflektierenden Materialien wie Metall (Deckenleuchter aus Messing), vielfarbig bemaltem Holz, glasierten Fliesen, Glas- und Keramikobjekten sowie farbigen Glasfenstern stark akzentuiert. Das Gitterwerk an den großen Nischenfenstern, die an der Ringstraßenseite angebracht wurden, verblendete das Tageslicht; In einer aus dunklem Holz gestalteten Wandnische, so dokumentiert Le Corbusier in einer seiner Zeichnungen, leuchteten Keramikvasen aus dem Osmanischen Reich in Veronesegrün, Himmelblau und Zitronengelb. Der aus Wolle geknüpfte Teppich mit blau-grünem Palmettenmuster auf rotem Grund am Fußboden sowie weitere Teppiche und tambourierte Seidenpolster in den Fensternischen belebten gemeinsam mit dem leuchtend weißen Marmorwandbrunnen mit roten und schwarzen Inkrustationen unter dem hölzernen Stalaktitengewölbe den Raumeindruck mit einer Fülle optisch-haptischer Reize. Das ornamentale Flächenmuster, das von der Wiener Kunstgewerbereform besonders geschätzt wurde, war im gesamten Raum bunt und dicht nebeneinander komponiert zu sehen.

 

ORIENTMODE

Der „Orient“ war bereits durch den Ägyptenfeldzug Napoleons (1798–1801) ins Blickfeld der Kunstschaffenden in Europa geraten. Spätestens seit der Wiener Weltausstellung 1873, auf der ein orientalisches Viertel zu sehen war, erfreuten sich die Baukunst und das Interieur aus islamischen Ländern beim Wiener Publikum einer großen Popularität. Orientmode wurde zum europaweiten Trend der Innenarchitektur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. So wurden Raucherzimmer oder Herrenarbeitszimmer großbürgerlicher Wohnungen der Wiener Ringstraßenzeit gern im arabisch anmutenden „orientalischen Stil“ eingerichtet, wie etwa von Kronprinz Rudolf (1858–1889, Abb. 9) nach seinen drei Orientreisen (1881, 1884 und 1885) oder wohlhabenden Bürgern. Um diesen europaweiten Nachfragen nachzukommen expandierten Händler und Fabrikanten ihre Geschäfte. Nicht zufällig hat das Orientalische Museum (1874–1906), eine Konkurrenz aus Wien im Sammeln außereuropäischer Kunst, auch vier orientalische Interieurs  — im gleichen Jahr wie das „Arabische Zimmer“ im heutigen MAK – eröffnet.

 

Die museale Präsentation eines Arabischen Zimmers ist auf eine wachsende Begeisterung nicht nur für fremde Kulturen, sondern auch für Wohnen und Mobiliar zurückzuführen. Seit den 1860er Jahren entstanden in europäischen und US-amerikanischen Kunstgewerbe- und kulturhistorischen Museen sogenannte Period-Rooms. Solche Raumarchitekturen, die im artifiziellen musealen Umfeld zur Anschauung ästhetischer, kulturanthropologischer und raumgestalterischer Aspekte aufgebaut wurden, hatten allerdings ein lockeres Verhältnis zur Authentizität — nicht selten zugunsten des Prinzips, „Stimmung“ einzufangen.

Beim Arabischen Zimmer, in dem Gegenstände österreichischer Entwerfer und Objekte aus dem heutigen Ägypten und der Türkei kühn zusammengestellt wurden, war dies ebenfalls der Fall. Ein Teil der Raumausstattung für das Arabische Zimmer, unter anderem Türen und Wandkästen, stammt aus dem Ägyptischen Pavillon der Wiener Weltausstellung und wurde nach Schmoranz Entwürfen in Österreich gefertigt. Die restliche Ausstattung, wie Objekte, Möbel und Wandverkleidungen, wurde nach Plänen und Entwürfen der beiden Prager Architekten neu produziert. Aus den Archivdokumenten geht außerdem hervor, dass diesmal auch ausschließlich Kunsthandwerker aus Österreich an der Ausführung beteiligt waren. Zusätzliche Dekorationsstücke kamen vermutlich sowohl aus den Museumsbeständen als auch aus Schmoranz Privatbesitz. Die studentische Forschungsgruppe der Universität Wien unter Leitung von Johannes Wieninger (bis 2019 Kustode der MAK-Sammlung Asien) hat nach mühevoller Suche mehr als fünfzig Objekte, die im Arabischen Zimmer zum Einsatz kamen, in den MAK-Depots identifiziert. Darunter waren Glasfenster, Wandverkleidungen, Wandbrunnen, Wandschranktüren , Sitzbänke  und Gefäße. Über dreißig davon konnten mit Dokumentationsfotos verortet werden.

Schmoranz und Machytka haben beim Entwurf auf unterschiedliche osmanische Stile zurückgegriffen. Interessanterweise sind die Raumfunktionen, die durch Raumdekoration und Objekte markiert sind, zwiespältig und deuten eher auf eine freie Interpretation eines orientalisierenden Raumes durch die beiden Prager Architekten hin. So deutet die Installation eines dem öffentlichen Raum zuzuordnenden Wandbrunnens im Arabischen Zimmer auf eine Verquickung des privaten und öffentlichen Bereiches hin. Während einige auf historischen Fotos identifizierte Objekte wie eine Wasserpfeife auf die Raumzuordnung als Herren- oder Raucherzimmer hinweisen, war die floral gemusterte Wandmalerei zumindest in Schmoranz Raumentwurf eher in arabischen Frauengemächern des 18. Jahrhunderts zu finden.

Das Arabische Zimmer ist u. a. ein Zeitzeuge der Wiener Orientmode als Zeitgeschmack der Gründerzeit und ein materielles Dokument des kreativen Umgangs mit verschiedenen osmanisch-ägyptischen Architekturstilen. Hier zeigt sich auch ein transkultureller Flow von Objekten, Motiven und Raumkonzepten über kulturelle, zeitliche Grenzen hinweg. Ein Hybridisierungsprozess fremdartiger Ästhetik und Kulturerzeugnisse mit lokalen Gegebenheiten manifestiert sich konkret in der materiellen Gestaltung des Zimmers. Die kulturelle „Europa-Orient“-Dichotomie löst sich auf, das Fremde wird zu Eigenem. So wie unsere gegenwärtige Kultur und Gesellschaft.

Ein Beitrag von Mio Wakita-Elis, Kustodin MAK-Sammlung Asien 

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