China im Bild. Eine Reflexion von MAK-Kuratorin Bärbel Vischer

17. April 2019

Insights

Zur Zeit des Diktators und Kulturrevolutionärs Mao Zedong (1893–1976) vermittelte die international in zahlreichen Sprachen herausgegebene Zeitschrift China im Bild das moderne China der 1960er bis 1980er Jahre. Interessiert an der Kulturrevolution, verfasste Roland Barthes (1915–1980) mit Carnets du voyage en Chine (1974) ein akribisches Tagebuch einer für französische PhilosophInnen und SchriftstellerInnen organisierten Reise durch China, während Julia Kristeva (* 1941) in ihren provokanten Reisenotizen Des Chinoises (1974) die Position der Frau und feministische Aspekte der Revolution beleuchtet. Zu den Stationen dieser Reise zählten die Verbotene Stadt und das Gebäude der Kommunistischen Partei am Tiananmen-Platz in Peking, Fabriken und Baustellen, Wohnbezirke, Galerien, Museen und eine Industrieausstellung. Mit der zunehmenden politischen Öffnung seit den 1980er Jahren und im Zeitfenster einer Generation verschob sich unser Blick auf China.

 

Auch nach der Kulturrevolution und der Aufnahme moderner westlicher Kunstströmungen bleiben die Einflüsse des Sozialistischen Realismus und die Einschränkungen durch die Zensur spürbar, die den Aktionsradius der KünstlerInnen, der Intellektuellen und der Universitäten in China bestimmt. Museums-, Theater- und Filmprogramme sowie Publikationen erfordern die Zustimmung des Ministeriums für Kultur der Zentralregierung. Zeitgenössische Kunst ist und bleibt sperrig oder unbequem für den totalitären Staatsapparat.

MAK-Ausstellungsansicht, 2019 CHINESE WHISPERS. Neue Kunst aus der Sigg Collection MAK-Ausstellungshalle Liu Ding, New Man, 2014 Öl auf Leinwand, Mixed Media © MAK/Georg Mayer China im Bild

MAK-Ausstellungsansicht, 2019
CHINESE WHISPERS. Neue Kunst aus der Sigg Collection
Liu Ding, New Man, 2014 © MAK/Georg Mayer

Die MAK-Ausstellung CHINESE WHISPERS. Neue Kunst aus der Sigg Collection zeigt den Handlungsraum unterschiedlicher Generationen von KünstlerInnen und dokumentiert einen Zeitraum der Öffnung Chinas, das durch die digitale Überwachung und Zensur heute wieder und viel subtiler geschlossen ist. Politische Kunst wird in den offiziellen Medien als westliche Interpretation und Verzerrung durch westliche KuratorInnen gesehen. Die Kraft der chinesischen Gegenwartskunst liegt im soziopolitischen Diskurs, der sich erschließt, wenn die Zeichen an den Bruchlinien und Übergängen zwischen Ost und West gedeutet werden. Es geht nicht um Nation oder nationale Identität in der Auseinandersetzung mit zeitgenössischer Kunst.

 

Der Umgang mit Tradition und Geschichte bildet einen Kontext, den viele KünstlerInnen aus China beleuchten. Der Anspruch, sich zu lösen, gelingt nicht immer oder ist nicht das Ziel. Die Überscheidungen in der MAK-Ausstellung von zeitgenössischer Kunst und historischen Objekten aus der MAK-Sammlung Asien bilden eine Möglichkeit der Betrachtung, die auf die Dimension kultureller Zusammenhänge verweist und zeigen, dass der aktuelle ökonomisch und politisch bedingte Fokus auf China kein Phänomen unserer Zeit ist, sondern auf eine historische Praxis zurückgreift. Der Blick Europas nach Asien wird in den Museen dokumentiert. Die MAK-Sammlung mit Objekten aus China, Japan und Korea ging unter anderem aus der Sammlung des ehemaligen Wiener Handelsmuseums hervor. Europäische Materialgeschichte wurde vom Handel mit asiatischem Kunstgewerbe geprägt und der Austausch mit Asien beeinflusste die Entwicklung der Moderne.

 

Wenn man den Weg nach China einschlägt, verdichtet sich das Changieren des Denkens. In China geht es darum, Muster und Systeme zu erkennen und aus Vorbildern zu lernen. Es zählen die veränderlichen Konstellationen der Dinge. Als Nahtstelle zwischen Ost und West wird in der MAK-Ausstellung die ambivalente Auffassung von Original, Kopie, Interpretation und Fälschung bzw. Fake zur Diskussion gestellt. In China sind kulturelle Produkte nicht immer an eine individuelle Autorenschaft gebunden, sondern entstehen oft im Kollektiv der Masse. Das Potenzial dieser Kulturtechnik analysiert der Philosoph Byung-Chul Han (* 1959) in Shanzhai. Dekonstruktion auf Chinesisch (2011). Bestimmend für das Denken in China ist der Prozess, es gibt keinen unmittelbaren Zugang zu den historischen Parametern von Kultur. Der Anfang oder das Ende spielen keine Rolle, es zählt die Bewegung.

Ein Beitrag von Bärbel Vischer, Kustodin MAK-Sammlung Gegenwartskunst

Die Ausstellung 中国私 CHINESE WHISPERS. Neue Kunst aus der Sigg Collection war von 30. Jänner bis 26. Mai 2019 in der MAK-Ausstellungshalle zu sehen.

Eine Ausstellung des MAK im Dialog mit dem Sammler Uli Sigg und in Kooperation mit dem Kunstmuseum Bern sowie dem Zentrum Paul Klee

KünstlerInnen: 徐文恺 aaajiao (Xu Wenkai), 艾未未 Ai Weiwei, 曹斐 Cao Fei, 曹雨 Cao Yu, 陳樂珩 Chan Stacey Lok Heng, 陳苑翹 Chan Yuen Kiu, 池磊 Chi Lei, 储云 Chu Yun, 丁乙 Ding Yi, 段建宇 Duan Jianyu, 冯梦波 Feng Mengbo, 高伟刚 Gao Weigang, 顾小平 Gu Xiaoping, 何翔宇 He Xiangyu, 洪浩 Hong Hao,  嘉 Jia, 杨俊 Jun Yang, 李傑 Lee Kit, 廖斐 Liao Fei, 刘勃麟 Liu Bolin, 刘窗 Liu Chuang, 刘鼎 Liu Ding, 刘韡 Liu Wei, 马轲 Ma Ke, 毛同强 Mao Tongqiang, 苗颖 Miao Ying, 黃漢明 Ming Wong, 倪有鱼 Ni Youyu, 白双全 Pak Sheung Chuen, 裴丽 Pei Li, 楊嘉輝 Samson Young, 邵帆 Shao Fan, 沈少民 Shen Shaomin, 沈学哲 Shen Xuezhe, 史国威 Shi Guowei, 史金淞 Shi Jinsong, 宋冬 Song Dong, 王光乐 Wang Guangle, 王晋 Wang Jin, 王雷 Wang Lei, 王卫 Wang Wei, 王兴伟 Wang Xingwei, Christian Hidaka, 谢墨凛 Xie Molin, 谢南星 Xie Nanxing, 徐冰 Xu Bing, 许成 Xu Cheng, 徐震 Xu Zhen, 薛峰 Xue Feng, 叶鲜艳 Ye Xianyan, 张培力 Zhang Peili, 张晓刚 Zhang Xiaogang, 张玥 Zhang Yue, 赵半狄 Zhao Bandi, 郑国谷 Zheng Guogu und 朱久洋 Zhu Jiuyang

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