Das Medium ist die Message: Das Vorführen von Kunst- und Kabinettschränken

13. Oktober 2021

Forschung & Sammlung

Die Möbel aus der Werkstatt von Abraham und David Roentgen waren für Publikum gedacht. Durch ihre ausgefeilte Mechanik und Verwandlungsfähigkeit erfüllten sie vor allem auch den Zweck, vorgeführt zu werden. Sebastian Hackenschmidt, Kustode der MAK-Sammlung Möbel und Holzarbeiten, beleuchtet in diesem zehnten Beitrag der Serie über den Kunst- und Kabinettschrank von David Roentgen das aufwendige Mobiliar aus medientheoretischer Sicht.

Das Öffnen von verschlossenen Möbelstücken stellt oft einen komplexen Handlungsablauf dar – nicht immer wird einem durch das Aufmachen einer Türe oder Lade schon Einblick in das Innere gewährt. Dies gilt bereits für den Vargueño, einen seit dem 16. Jahrhundert vor allem in Spanien verbreiteten und leicht zu transportierenden Möbeltyp zur Aufbewahrung von Schreibutensilien, Akten und Wertsachen, auf den die Entwicklung der Kabinett- und Schreibschränke zurückzuführen ist: Hinter der herunterklappbaren Frontplatte dieser frühen Schreibmöbel verbergen sich viele über- und nebeneinander angeordnete Fächer mit Schubladen und kleinen Türen, die jeweils einzeln herausgezogen und geöffnet werden müssen.

Vargueno, Spanien, 2. Viertel 16. des Jahrhunderts
© MAK/Georg Mayer

Und auch die überwiegend durch Türflügel versperrten Kabinettschränke des Barock enthalten im Inneren meist kleinere Schubladen und größere, von Türen verschlossene Fächer. Bisweilen lassen sich aus den großen Mittelfächern dieser Möbelstücke ganze Miniatur-Schreibschränkchen herausnehmen, die ihrerseits wieder in kleine Fächer mit Türen und Schubladen gegliedert sind.

Kabinettschrank, Süddeutschland, Ende 16. Jahrhunderts
© MAK/Georg Mayer

Vor allem in höfischen Kreisen und im Kontext der Kunstkammern gab das Vorführen solcher Kunst- und Kabinettschränke vor Publikum – das schrittweise Enthüllen ihrer Funktionen und ihres Inhalts sowie das detaillierte Erläutern der darin verborgenen Dinge – seinen Besitzern Anlass, Bildung, Status und Kultiviertheit zu demonstrieren. „Im Öffnen und Schließen ist deshalb ein Repräsentationsmoment enthalten, das dem Zeigenden eine Bühne öffnet und ihm Zuschauer garantiert“, wie es die Wissenschaftshistorikerin Anke te Heesen einmal formuliert hat.

Der Hang, das Öffnen von Möbeln möglichst vielfältig und interessant erscheinen zu lassen, führte zu einer zunehmenden Mechanisierung: Aufwendige Apparaturen und hochkomplexe Mechanismen, Spielautomaten und Uhrwerke wurden vor allem deshalb in Schreibtische, Kunstschränke, Sekretäre und Kommoden integriert, um sie vorführen zu können. Einen Höhepunkt stellen in dieser Hinsicht die aufwendigen Möbel des 18. Jahrhunderts dar, allen voran die Möbel aus der Werkstatt von Abraham und David Roentgen, die häufig mehrere Zwecke erfüllten und sich mechanisch verwandeln ließen. Das gilt – allen voran – für den großen Kabinettschrank von David Roentgen, der Mitte der 1770er Jahre von Prinz Karl Alexander von Lothringen, dem österreichischen Statthalter der Niederlande, erworben wurde.

David Roentgen, Kunst- und Kabinettschrank, Neuwied, 1776
© MAK/Georg Mayer

Das über drei Meter hohe und von einer vergoldeten Apollonfigur bekrönte Möbel bildet einen Höhepunkt europäischer Kunsttischlerei. Lediglich zwei weitere Varianten wurden in der Werkstatt Roentgens für andere europäische Herrscher angefertigt und mit hochkomplexen mechanischen Inneneinrichtungen versehen. Beim Kunstschrank des MAK – der im Mittelpunkt dieser Blog-Serie steht – lassen sich per Knopfdruck automatisch ein Lesepult ausfahren, sowie ein Münzschrank, der mit einem Flötenspielwerk verbunden ist, das beim Öffnen zu spielen beginnt: ein eleganter und wohlklingender Sicherheitsmechanismus.

Ebenso wie die verborgenen und äußerst komplexen Klapp- und Schiebemechanismen waren auch Geheimfächer, verborgene Schubladen und doppelte Böden bei den Schreibschränken und -tischen früherer Jahrhunderte weit verbreitet. Entsprechende Pläne oder Beschreibungen, in denen Möbeltischler ihre Geheimnisse preisgegeben haben, sind dagegen rar – widersprechen sie doch der eigentlichen Intention der Geheimhaltung. Zu den wenigen Ausnahmen zählen einige der ambitionierten Möbelstücke, mit denen die Handwerker ihre Kunstfertigkeit nachwiesen, etwa im Fall eines 1840 als Meisterstück in Wien entstandenen und außergewöhnlich arbeitsintensiven Sekretärs: Das 158 cm hohe, 106 cm breite und 68 cm tiefe Möbel des Tischlers Vinzenz Hefele enthält über hundert Schubladen, von denen die meisten tief im Möbel verborgen liegen und nur schwer zugänglich sind.

 

Die komplizierte Anordnung der Schubladen und die aufwendige Bedienung des Möbels hat Hefele in einer detaillierten Beschreibung samt Planzeichnungen erläutert, ebenso wie die „mechanische Einrichtung“ samt der Schlüssel, Schrauben, Schübe, Schnäpper, Schnurleitungen, Schließbleche, Sperrräder, Hubstangen, Riegel, Druckfedern, Züge, Klappen und Einsätze, die betätigt werden müssen, um an die Schubladen zu gelangen: Die ausführlichen Erklärungen wurden vom Hersteller nachträglich verfasst, um spätere Besitzer dazu anzuleiten, „allfällige Reparaturen an dem Kasten vornehmen zu können“ – vor allem aber, um das Möbel adäquat handhaben und „Anderen zeigen zu können“.

Obgleich sich Hefele rühmte, neben der Anerkennung der Kommission der Wiener Tischlerinnung für sein Meisterstück auch die des allgemeinen Publikums erlangt zu haben – „es haben den Kasten während einer Dauer von zwei Jahren wenigstens 10.000 Personen aus allen Ständen besichtigt“ –, riet er in den Anweisungen zum Gebrauch des Möbels doch zur Diskretion bei seiner Vorführung: „Um mit den Laden zu experimentieren, gehört eine große Übung dazu; denn da die Einrichtung auf die möglichste Täuschung berechnet ist, so muß bei Behandlung der Laden eben darauf gesehen werden, den Zuseher zu verhindern, auch nur im geringsten einen Anhaltspunkt finden zu können. Es ist die Hauptsache, daß Niemand im Rücken des Zeigenden steht, und ist vorzüglich bei dem Herauskommen der leeren Lade dieselbe an sich gekehrt zu halten, ehe noch die Verschlußklappe herunten ist, indem sonst der zweite Boden sichtbar wird.

Die verborgenen mechanischen Geheimnisse spektakulärer Möbelstücke bildeten ein Ereignis, das darin bestand, vor Publikum schrittweise enthüllt zu werden. Auf diese Weise konnten Möbel über ihre praktische Funktion hinaus eine mediale Funktion wahrnehmen und ihren Benutzer*innen und Betrachter*innen Botschaften vermitteln und die zwischenmenschliche Verständigung befördern. Freilich aktualisierten sich die Informationen, die Möbel mitzuteilen hatten, nicht allein durch das Öffnen und den Gebrauch; durch repräsentative Oberflächengestaltung waren sie auch am Äußeren erkennbar: Gerade die Möbel aus der Werkstatt der Roentgens wurden ja keineswegs nur aufgrund ihrer mechanischen Wunder hoch gehandelt, sondern auch aufgrund ihrer „wunderbaren“ Oberflächen aus Holzmarketerie, die den Anspruch erhoben, sich mit Malerei zu messen: „Das allerwunderbar- und seltsamste hiebey aber ist, daß alle Figuren von lauter Hölzern gemacht, und zwar von solchen zusammengesucht- und choisirten Hölzern, daß dieselben eine vollkommene Mahlerey präsentiren, welche mit dem Hobel, ohne dabei etwas an ihrer Schönheit zu verlieren, können überfahren und abgehobelt werden,“ wie David Roentgen 1769 selbst die neuartige Technik beschrieb, mit der die Spezialisten in seiner Werkstatt operierten – und die einen gleichwertigen Anteil daran hatte, dass seine Möbel zwischen Paris und St. Petersburg wert geschätzt wurden.

Allegorie der Musik an David Roentgens Kunst- und Kabinettschrank, Neuwied, 1776
© MAK/Georg Mayer

Schon an den repräsentativen Kabinettschränken, die in der frühen Neuzeit als Statussymbole galten, hatten sich stilistische Neuerungen und wandelnde Material- und Dekormoden nachvollziehen lassen. Jenseits ihres primären Verwendungszwecks als Behälter und Transportmittel für Objekte fungierten sie auf diese Weise als Medien des kulturellen Austauschs: Die kostbarsten und exotischsten Materialien wurden als Erstes an ihnen verarbeitet. Auch ausgefallene und neue, zuvor noch nicht im Möbelbau angewandte Handwerks- und Verarbeitungstechniken manifestierten sich zuerst an diesem international geschätzten Luxusprodukt. Vor allem aus den asiatischen Ländern kamen dabei entscheidende Neuerungen, die in den europäischen Handelszentren aufgegriffen und weiterentwickelt wurden. In ihren opulenten künstlerischen, stilistischen, ornamentalen und Material-ästhetischen Manifestationen scheinen sie zuweilen übercodiert. Aber nur bedingt deutete die äußere Gestaltung der Kästchen dabei an, was sich im Inneren verbarg: In Venedig, dem wichtigsten europäischen Importhafen für den Handel mit dem nahen Orient, entstand um 1580 etwa ein Kabinettschrank, dessen Oberfläche fast vollständig von Lackmalerei nach persischem Vorbild überzogen war. Überraschend und unvermittelt durch die äußere Hülle orientiert sich die architektonische Gliederung des Inneren dann aber an den zeitgenössischen palladianischen Prunkfassaden. Bei einem, vermutlich Mitte des 17. Jahrhunderts in westlicher Machart in Sri Lanka entstandenen Kabinettschränkchen aus geschnitzten Elfenbeinplatten setzt sich die charakteristische Materialästhetik dagegen auch innen fort.

 

Aufgrund ihres großen Prestigewertes wurden kostbare Kassetten und Schmuckschatullen häufig zusammen mit den in ihnen enthaltenen Kleinodien als diplomatische Geschenke überreicht. Als zeremoniell überreichte Donationen dienten exotische und kostspielige Behälter nicht allein als Verpackung für die beigefügten Kostbarkeiten, Raritäten und Reliquien: Sie waren selbst geschätzte Kunst- und Wertgegenstände, deren symbolische Aufgabe darin bestand, politische Verhältnisse und Ambitionen zu vermitteln. So stand eine mit goldverziertem rotem Leder überzogene und innen mit Samt und Atlas ausgeschlagene Truhe, in der im Jahr 1628 diverse Wertgegenstände der im Auftrag des Römischen Kaisers und Königs von Ungarn entsandten Großbotschaft an Sultan Murad IV. übergeben wurden, zuvorderst auf der Liste der Präsente und war selbst mit über tausend Gulden veranschlagt. Auch größere Prunkmöbel wie die Kunst- und Kabinettschränke übernahmen im diplomatisch-politischen Geschehen die Rolle von medialen Kommunikationsinstrumenten: Es war der performative und repräsentative Charakter dieser Möbel, der die „Botschaft“ darstellte, nicht die in ihnen aufbewahrten Gegenstände. Der „Inhalt“ dieser Korpusmöbel beschränkte sich eben nicht auf ihren Inhalt; im Gegenteil lässt sich einmal mehr behaupten, dass das Medium zugleich die Message war.

Ein Beitrag von Sebastian Hackenschmidt, Kustode MAK-Sammlung Möbel und Holzarbeiten.

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