Missing Link – Kunstvolle Medienkritik in den 1970er Jahren

25. August 2022

Insights

Medienkritik hat für die Architekt*innengruppe Missing Link (1970–80), der das MAK derzeit eine große Ausstellung widmet, eine wichtige Rolle gespielt. Einschlägige Publikationen wie Marshall McLuhans Understanding Media (1964) und Buckminster Fullers Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde (1969) gehörten zum intellektuellen Rüstzeug für ihre Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Medienlandschaft. Insbesondere die Zeitung als modernes Kommunikationsmittel geriet immer wieder in den kritischen Fokus der Gruppe, schildert Ausstellungskurator Sebastian Hackenschmidt für den MAK Blog.

 

Bereits unmittelbar nach der Gründung der Gruppe begann Missing Link, die kritische Beobachtung der Massenmedien mit in ihre Arbeiten einfließen zu lassen. So etwa in dem Film 16. November: Eine Utopie in 9 wirklichen Bildern (1972) – einer von zwei Fernsehfilmen, die die Gruppe in den frühen 1970er Jahren im Auftrag des ORF umsetzte: Eines der neun „Bilder“ dieses Science Fiction-artigen Fernsehfilms gibt eine Kaffeehausszene wieder, in der sich die Personen – gespielt von den Gruppenmitgliedern Angela Hareiter, Otto Kapfinger und Adolf Krischanitz – an einem gemeinsamen Tisch versammelt haben, aber sich jeweils hinter einer Zeitung verschanzt halten, ohne miteinander zu kommunizieren – willfährige Opfer eines durch den einseitigen Konsum vorgefertigter Informationen und Meinungen bedingten Realitätsverlusts. Unfähig, mit ihrer Umwelt oder miteinander in Kontakt zu treten, zeichnen die Menschen ein düsteres Bild der Zukunft, das weniger utopisch als vielmehr dystopisch anmutet und deutliche Anklänge an Aldous Huxleys Schöne neue Welt (1932) und George Orwells 1984 (1949) besitzt. Aus dem filmischen Off kommentiert eine durch Echo-Effekte verzerrte Stimme die Szene und bewirbt die Zeitung ironisch als „tragbaren Gesprächspartner“.

Missing Link, 16. November: Eine Utopie in 9 wirklichen Bildern, 1972
Foto: Gert Winkler
© MAK

In seinem 1970 in der Zeitschrift Kursbuch veröffentlichten Baukasten zu einer Theorie der Medien nahm Hans Magnus Enzensberger eine inhaltlich vergleichbare Kritik anhand der elektronischen Massenmedien von Film und Fernsehen vor. Er bemängelte, dass die Apparate mit ihren zentral gesteuerten Programmen nicht der Kommunikation dienten, sondern ihrer Verhinderung: „Sie lassen keine Wechselwirkung zwischen Sender und Empfänger zu: technisch gesprochen, reduzieren sie den feedback auf das systemtheoretisch mögliche Minimum.“

Missing Link, Im Café, 1978
© MAK

Dass die Medienkritik von Missing Link nicht deutlicher auch auf den „Großen Bruder Fernsehen“ abzielte, mag mit der spezifischen Situation des Fernsehens zu Beginn der 1970er Jahre in Österreich zu tun gehabt haben, in der alternative Kultur nicht nur vermittelt, sondern auch produziert wurde: Nach Meinung des Autors Thomas Pluch zählte der ORF mit der von 1972 bis 1975 ausgestrahlten, von Hans Preiner redigierten Sendereihe Impulse – in der unter anderem auch Beiträge von Maria Lassnig, Arnulf Rainer oder Valie Export und Peter Weibel vertreten waren – „zu den bedeutendsten Avantgardisten auf fernsehkünstlerischem Gebiet“. Mit seinem experimentellen Fernsehfilm konnte sich Missing Link seinerzeit an einem „Laboratorium zur Ausbildung eigener Ausdrucksformen“ (Pluch) beteiligen – und bekam vom ORF dafür eigens ein ganzes Team samt Regisseur an die Seite gestellt. Und es ist dem ORF – der seinerzeit, so der ehemalige ORF-Programmchef Wolfgang Lorenz, noch den „Maßstab des österreichischen Kulturlebens“ bildete – ebenfalls hoch anzurechnen, zeitgenössische Kunst und aktuelle Autorenfilme damals nicht als Feigenblatt im Nachtprogramm, sondern als integralen Teil des Hauptabendprogramms verstanden zu haben.

Missing Link, Über-Bord, 1974
© MAK

Das im Fernsehfilm 16. November: Eine Utopie in 9 wirklichen Bildern verwendete Schlagwort der Zeitung als „tragbarer Gesprächspartner“ brachte eine Medienkritik zum Ausdruck, mit der sich Missing Link bis ans Ende des Jahrzehnts und der Auflösung der Gruppe 1980 kontinuierlich auseinandersetzen sollte.  In einer Serie von Zeichnungen aus den Jahren 1974 und 1975, nahm Missing Link die Perspektive eines Kaffeehausgastes ein, dessen „Horizont“ einerseits durch die Zeitung als dem für die Wiener Kaffeehauskultur charakteristischen Informationsmedium, andererseits durch die Kante des Tisches gebildet wurde, an dem er Platz genommen hatte. Neben den im Kontext eines Kaffeehauses zu erwartenden Dingen – Zigarettenpackungen, Aschenbecher, Zeitungshalter, Bugholzmöbel und  Kleiderständer – tauchen in diesen Bildern bisweilen rätselhafte Objekte am Horizont auf, die sich auf die „Realität“ der Bildwirklichkeit auswirken: Durch einen Rettungsring im Vordergrund wird in Über-Bord (1974) die Tischplatte zum Meeresspiegel, an dessen Horizont sich ein Aschenbecher mit Zigaretten zu einem Rettungsschlauchboot mit Paddeln transformiert und der Griff einer Kaffeemaschine wie das Teleskop eines U-Boots aufragt. Und während am Tischkanten-Horizont der Zeichnung Perforation (1975) ein aus einem Zeitungsblatt gefaltetes Schiffchen entlangsegelt, stellt unterhalb davon ein die weiße Papierfläche durchbrechendes U-Boot den rissig gewordenen Illusionsraum des Bildes in Frage – ein Motiv, das auch in dem Blatt Zwischen den Zeilen (1975) verarbeitet wird, auf dem das U-Boot zwischen den Zeilen eines Artikels der ausgebreiteten Zeitung hervorzubrechen scheint. Nicht nur die Dinge der unmittelbaren Umgebung, sondern auch die aus den Zeitungen in das Kaffeehaus hereinbrechenden Gegenstände werden auf diese Weise zur „Bedingung“ der Bilder von Missing Link – die Zeichnungen zeigen, wie sich Alltagswirklichkeit und Medienwirklichkeit „gegenständlich“ durchdringen. Davon handelt auch noch die späte Zeichnung Im Cafe von 1978.

Missing Link, Perforation, 1975
© MAK

Missing Link, Zwischen den Zeilen, 1975
© MAK

In eines der größten Zeitungs-Blätter mit dem Titel Ersatzteil für eine Landschaft (1975) gingen verschiedene Motive ein, die auch in anderen Zeichnungen oder Gouachen von Missing Link auftauchten. So ganz links im Bild ein ungeordnet wirkender Haufen Zeitungen, aus dem sich ein aus einem Zeitungsblatt gefalteter Papierflieger zu lösen scheint. Dieses Motiv wurde auch als Einzelblatt ausgearbeitet und mit dem Titel Zeitungsbomber (1975) versehen. Das Blatt selbst ist nicht im Vorlass der Gruppe im MAK enthalten und lediglich auf einem Kontaktbogen fotografisch dokumentiert.

Missing Link, Ersatzteil für eine Landschaft, 1975
© MAK

Wie sich Otto Kapfinger erinnert, wurde dieses Blatt 1975 an Hans Dichand, den 2010 verstorbenen Herausgeber der Kronenzeitung verkauft: „1974/75 wechselte Angela wieder in ihr Metier der Filmausstattungen und Adolf hatte immerhin einen kleinen Lehrauftrag an der Akademie am Institut für Werkerziehung, das seit 1974 von Edelbert Koeb geleitet und gründlich reformiert wurde. Wir hatten sonst keinerlei Einkommen, Aufträge oder Aussichten. Im Meidlinger Atelier am Johann Hofmann-Platz entwickelte ich diese Tusche-Serie zum Thema Zeitung, der tragbare Gesprächspartner, während Adi parallel bei sich zuhause an den großen Farb-Gouachen zum Thema Horizont werkte. Mein Bruder, Dr. Hans Peter Schmidtbauer, der uns von Beginn an mit Ratschlägen und Kontakten unterstützt hatte, meinte, ich sollte diese Zeichnungen doch dem Eigentümer der Kronenzeitung anbieten, Hans Dichand, der ja auch als Kunstmäzen bekannt war. So ging ich mit der Mappe zu ihm ins Büro in der Muthgasse, und Dichand erwarb damals drei oder vier Blätter gegen Barzahlung, ohne Rechnung oder Quittung – darunter auch das Sujet Zeitungsbomber. So hatte ich für ein halbes Jahr wieder ausgesorgt.“

Missing Link, Zeitungsbomber, 1975
© MAK

Weiter im Steigflug, Werbekampagne der Krone, 1999
Fotografie von Renate Kordon

Zweieinhalb Jahrzehnte später tauchte der Zeitungsbomber unversehens wieder auf: Er diente als bildliche Vorlage für eine Werbekampagne mit dem Titel Weiter im Steigflug, in der die Kronenzeitung im Frühsommer 1999 stolz auf ihre jüngste Auflagen-Steigerung verwies. Allerdings war das ursprüngliche Sujet von Missing Link stark verfremdet worden: Der Zeitungshaufen, quasi der Abgas-Schweif oder Lärm-Schwall des Zeitungsbombers, wurde verzerrt und über die ganze Breite des riesigen Plakatformats gezogen; der anonyme Papierflieger der Originalzeichnung wurde dagegen wegretuschiert und durch einen Krone-Flieger ersetzt, der sich nun deutlich von der Zeitungspiste am Boden abgesetzte – ein Schelm, wer hier Parallelen zur Verdrehung von Fakten und der selektiven, bisweilen auch tendenziösen Berichterstattung der Boulevardzeitung  ziehen will. In winzig kleiner Schrift fand sich immerhin der Vermerk „Nach einer Zeichnung von Missing Link“ am Bildrand. Ein mit Hilfe des Juristen und Medienfachmanns Dr. Schmidtbauer an die Krone gesandtes Schreiben mit der Forderung nach Abgeltung der Bild- bzw. Urheberrechte, wurde vom Krone-Rechtsanwalt mit Hinweise auf fehlende Kaufverträge kategorisch abgelehnt – und die Sache wegen Aussichtslosigkeit nicht weiterverfolgt, der Steigflug der Krone war nicht aufzuhalten.

Ein Beitrag von Sebastian Hackenschmidt, Kustode MAK Sammlung Möbel und Holzarbeiten und Kurator der Ausstellung MISSING LINK. Strategien einer Architekt*innengruppe aus Wien (1970–1980), die noch bis 2. Oktober 2022 im MAK zu sehen ist.

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