Julia Krah
Ein postkolonialer Blick auf die Sammlung
Europäische Museen haben nicht selten von kolonialer Ausbeutung profitiert – ein Erbe, das bis heute nachwirkt. Die Kunstvermittlerin Julia Krah hat gemeinsam mit der kültüř gemma! Stipendiatin Munira Mohamud einen postkolonialen Rundgang konzipiert. Nach dem Abschluss des Fellowships und vieler erfolgreicher Führungen teilt sie am MAK Blog ihre Erfahrungen und zeigt, wie diese Perspektive die Kunstvermittlung nachhaltig bereichern kann.
Oft, wenn ich Gruppen durch das MAK führe, die noch nie im MAK waren, bleibe ich zu Beginn der Führung ein paar Minuten in der Säulenhalle stehen und erzähle von den Ursprüngen des Museums: Dass es als Mustersammlung gedacht war und einen didaktischen Anspruch hatte; dass in den Statuten geschrieben steht, dass das Museum zur „Hebung des Geschmacks“ in Österreich beitragen sollte. Sobald ich diesen Satz sage, hören die Teilnehmenden auf, mich anzuschauen, sondern wenden den Blick ihrer Umgebung zu.

Postkoloniale Führung mit Munira Mohamud
© Salam Oida

MAK Säulenhalle
© MAK/Katrin Wißkirchen
Sie sehen eine prächtige doppelgeschossige Säulenhalle im Stil der italienischen Frührenaissance, sehen die feinen Grotesken in den Umgängen und den Stucco Lustro, den gemalten Marmor, an den Wänden. Es ist, als ob sie sich gleich eine erste Lektion in Sachen Schönheit abholen möchten – und sie liegen damit nicht falsch: Das Gebäude des MAK am Stubenring sowie seine dort ausgestellten Sammlungen setzen Maßstäbe in ästhetischen und gestalterischen Fragen.
Ein wichtiger Teil unserer Vermittlungsarbeit ist, den Besucher*innen zu vermitteln, dass die Idee des guten Geschmacks weit über formale Fragen hinausgeht. Das MAK Design Lab und viele temporäre Ausstellungen zeigen uns, wie im zeitgenössischen Design beispielsweise die Produktionsweise eines Gegenstandes sowie seine Nachhaltigkeit durchaus entscheidend sind bei der Frage, ob es sich um gute und geschmackvolle Gestaltung handelt oder nicht.
Geschmack ist ja einer dieser deutschen Begriffe – ganz ähnlich der Würde –, der trotz oder gerade wegen seiner Schwammigkeit große Bedeutung haben kann. In seiner Absenz wird der Geschmack besonders deutlich: Die Beschreibung „geschmacklos“ kann einen stilistischen Fauxpas ebenso wie eine schwere, auch moralische Verfehlung benennen.
Ein hervorragendes Beispiel für die Wandelbarkeit solcher Einschätzungen ist das Service Orient, das die Wiener Werkstätte-Gestalterin Ena Rottenberg 1930 für die Porzellanmanufaktur Augarten designte:

Ena Rottenberg, Service Orient, 1930
© Dorotheum
Das Teeservice verweist auf die Herkunft seines Inhalts durch stereotypisierte Köpfe chinesischer Männer, die jeweils den Griff der Kanne und der Zuckerdose darstellen. Aus heutiger, kulturkritischer Sicht ist eine solche rassifizierte Darstellung durchaus als geschmacklos zu bezeichnen. Im Wien der 1930er Jahre war ein solches Augarten-Service absolut schick und modern. Das Service ist eine Version der damals ubiquitären rassistischen Darstellungen und Überzeugungen, es ist ein Produkt seiner Zeit. In der Vitrine des Museums wird es im besten Fall zum warnenden Zeugen seiner Zeit.
Die Aneignung, Exotisierung und Bewunderung des „Fernen Osten“ hat zudem eine reiche Geschichte in Europa. Sie spielt in fast jeder geführten Tour durch das MAK eine Rolle. Gleich beim ersten Umschauen in der Säulenhalle fällt dem/der Interessierten auf, dass die permanenten Schausäle allesamt mit Epochenbezeichnungen übertitelt sind – nur einer ist mit einer geografischen Angabe gekennzeichnet: „Asien“. Hintergrund dieses räumlichen Schwerpunkts in der MAK Sammlung ist, dass es seit dem 18. Jahrhundert ein großes Interesse an asiatischer Kunst in Europa gab, das zur Gründungszeit des Museums einen Höhepunkt erfuhr und dass den fernöstlichen Ländern besondere Kompetenzen in Sachen Handwerkskunst und Ornament zugesprochen wurden. Ein Wechselspiel stellte sich dann ein, da die Sammlung und die Ausstellungen des MAK wiederrum die Künstler*innen der Wiener Moderne inspirierten und einen Beitrag zur sogenannten „Japan-Euphorie“ lieferten, die sich bei Gustav Klimt, Koloman Moser und anderen niederschlägt und sicher auch das Teeservice von Rottenberg beeinflusste.
Obwohl der Asiensaal eng mit der Geschichte des MAK und der österreichischen Kunst- und Sammlungsgeschichte verknüpft ist, stellt er eine spannende Herausforderung dar: Seine Exponate eröffnen Einblicke in radikal andere kulturelle Kontexte, die eine besonders sorgfältige Vermittlung erfordern.
Einem Löwen ähnlich, jedoch mit Brustflügeln, spitzen Ohren und kleinen Hörnern versehen, sitzt das Wesen auf einem kleinen Sockel. Die Vorderbeine des Wächters sind gestreckt, die Brust geschwollen. Er sieht stolz aus und stramm, jederzeit bereit zum Kampf. Sein Maul ist mit scharfen Zähnen versehen und leicht geöffnet, als würde es knurren, an seinen Pfoten sind spitze Krallen zu sehen.
Die Figur ist mit der für die Tang-Dynastie typischen Dreifarbenglasur gebrannt. Die grünen und braunen Schlieren, die an der Figur herunter zu tropfen scheinen, wirken wie Spuren des Kampfes, wie Blut. Irgendwo in China hat dieses Wesen vermutlich für rund 1000 Jahre ein Grab bewacht. Ein Jahrtausend lang war es an Ort und Stelle, in einer Grabkammer oder einem Tempel, wachte und sorgte für das Seelenheil im Jenseits.

Grabfigur, Fabelwesen, Ausführung: Anonym, China, 7. bis 8. Jahrhundert
© MAK/Georg Mayer
Dann kam das 19. Jahrhundert in Europa. Es kamen die Expansionsfahrten, die „Entdecker“, die europäischen Wissenschaften wie etwa die Archäologie und die Kunstgeschichte; es kam auch das reiche europäische Bürgertum, das sich ganze Sammlungen an Asiatika anschaffte. In eine solche Sammlung kam auch unser Wächter. In die nämlich Anton Exners. Exner war Händler für Asiatika, er unternahm viele Reisen nach China und brachte „waggonweise“ Ware zurück, verkaufte sie und wurde damit reich. Exner war auch Nationalsozialist. Während dem Austrofaschismus war er Experte für asiatische Kunst am Dorotheum, bearbeitete dort viele der enteigneten jüdischen Sammlungen und bereicherte sich auch an ihnen. Ob unser Wächter aus einer ebensolchen jüdischen Sammlung kam: Wir wissen es nicht. Wer den Wächter von seinem angestammten Platz entwendet und nach Europa gebracht hat: Wir wissen es nicht. Trotz intensiver Provenienzforschung.
Wir wissen nur: diese Grabfigur hatte für sehr lange Zeit eine sehr wichtige Aufgabe. Ihr Aussehen erzählt davon. 1948 kam sie als Geschenk eines Nazis in den Besitz des Staates Österreich und dadurch ins MAK. Seit 2014 steht sie eingebettet in die Neugestaltung der Schausammlung Asien durch den japanischen Künstler Tadashi Kawamata am Boden und ist ihrer Aufgabe und vielleicht auch der oben benannten, schwer greifbaren Würde beraubt.

MAK Schausammlung ASIEN. China – Japan – Korea, 2016
© MAK/Georg Mayer
Kunstvermittler*innen im MAK haben nun die Pflicht, die Geschichte dieses Exponates sowie deren Lücken den Besucher*innen offenzulegen und das Privileg, eine neue Geschichte dieses Objekts anzubahnen. Durch das Vermitteln der komplexen, globalen Zusammenhänge, die notwendig waren, dass die Grabfigur in der Vitrine zu sehen ist, kommt ihr eine neue Aufgabe zu. Sie ermöglicht eine Erzählung nicht nur der Kulturgeschichte ihres chinesischen, spirituellen Entstehungskontextes, sondern auch der europäischen Expansionen des 19. Jahrhundert und der schrecklichen Ereignisse in Wien in den 1930er und 1940er Jahren.
Eine dekoloniale/postkoloniale/antikoloniale Kunstvermittlung kann erst stattfinden, wenn festgehalten wird: Auch diese Disziplin ist verankert in einer Idee von Wissen, Kultur und von Museum, die einem nationalen, patriarchalen und auch kolonialistischen Narrativ folgte. Allzu leicht ist es noch heute, genau dieses Narrativ weiter zu erzählen. Die Geschichte der triumphalen europäischen Kultur, der Aufklärung, der Befreiung des Geistes durch die Wissenschaft, ohne dabei die Kehrseite zu erzählen. Dass sich die europäische Kultur in Abgrenzung der „primitiven“ Kulturen definierte, und dadurch Ausbeutung und Gewalt legitimierte. Dass der aufgeklärte Mensch immer als weißer Mensch gedacht war. Dass sich in ganz Europa geraubte Artefakte in Museumssammlungen befinden, die im Namen der Wissenschaft dorthin gebracht wurden.
Das Museum an sich steht immer in einem Spannungsverhältnis zwischen Wissensproduktion und Machtausübung.
Ein guter Ausgangspunkt für Erzählungen jenseits der gestrigen und kolonialen Bedeutungsrahmen ist dabei die innere Struktur des MAK selbst. Seine Sammlung ist weder nach Epochen noch nach geografischen Aspekten gegliedert, sondern nach Material. Diese Gliederung kann uns von konstruierten Ideen einer vermeintlich eigenen und vermeintlich fremden Geschichte befreien. Sie birgt das Potential, die histoires croisées ans Licht zu bringen, wie sie die Soziologen Bénédicte Zimmermann und Michael Werner beschrieben, die entangled histories nach Shalini Randeria: also die tiefen und weitreichenden Verflechtungen transnationaler Kulturproduktion. Fast alle Objekte, die im MAK zu sehen sind, sind nur als Produkte komplexer globaler Prozesse zu verstehen. Der Fokus aufs Material stößt uns mit der Nase darauf: Woher kam das Ebenholz, aus dem die Barockmöbel sind? Woher das Gold des französischen Empirestils? Woher kam das Silber der Wiener Werkstätte? Woher ihre Baumwolle? Woher kommt der Kaffee der Wiener Kaffeehauskultur?
Diesen materiellen wie auch den Formenreichtum des Museums, der weit über europäisches Kulturerbe hinausgeht, zu vermitteln, ist der Anspruch der MAK Kunstvermittlung. Mit einem multiperspektivischen Ansatz trägt sie dazu bei, das Potenzial der MAK Sammlung und Wissen über globale und interdisziplinäre Zusammenhänge weiterzutragen.
Ein Beitrag von Julia Krah, Mitarbeiterin der Abteilung Vermittlung und Outreach