Inspektor gibt’s kaan: Robert Maria Stieg und die Initiative So

28. November 2024

Insights, NOW

Sebastian Hackenschmidt

Der aus Innsbruck stammende Architekt und Designer Robert Maria Stieg (1946–1984) gehörte zweifellos zu den bemerkenswertesten österreichischen Gestaltern der späten siebziger und frühen achtziger Jahre. Anlässlich von Stiegs 40. Todesjahr erinnert MAK Kustode Sebastian Hackenschmidt an einen Querdenker, der Architektur und Design als soziale Verpflichtung verstand und mit seinen gesellschaftskritischen Interventionen ein eigenwilliger Vertreter seiner Zunft war.

Nach einem Studium der Innenarchitektur an der Hochschule für angewandte Kunst eröffnete Stieg 1973 in Wien ein eigenes Atelier und spezialisierte sich zunächst auf Interieurs sowie die Einrichtung und Außengestaltung von Geschäften. Mitte der siebziger Jahre begann er, seine Arbeit als Form der Gesellschaftskritik aufzufassen. In den folgenden Jahren war Stieg vornehmlich als Ausstellungsmacher tätig und erregte mit provokanten Ausstellungen Aufsehen. So fand 1978 im Wiener Künstlerhaus die Ausstellung Unvollkommen Möbelhaftes – Eine Intervention in die Welt der Produktion statt. In einem von ihm selbst gestalteten Environment präsentierte Stieg eine Reihe von möbelhaften Objekten, deren „Unvollkommenheit“ vor allem in ihrer Abweichung zu konventionellen – „normalen“ – Möbeln bestand. 1979/80 folgte dort die Ausstellung Vorsicht: Polstermöbel!, die sich ebenfalls mit als Provokation und Entgleisung wahrgenommenen Möbelobjekten als Versuch verstand, in die Massenproduktkultur der Post-68er-Ära zu intervenieren. Das 2012 im Merve-Verlag erschienene Glossar der Interventionen würdigte Stieg entsprechend als denjenigen Gestalter, der den Begriff der Intervention als erster auf den Bereich des Designs angewendet habe.

Robert Maria Stieg: Environment mit Möbeln in der Ausstellung Unvollkommen Möbelhaftes, 1973-77, Maxplatten (erneuert), Formholz, Stahlrohr (Ausführung: R. Svoboda & Co., um 1977) © MAK

Robert Maria Stieg: Environment mit Möbeln in der Ausstellung Unvollkommen Möbelhaftes, 1973-77, Maxplatten (erneuert), Formholz, Stahlrohr (Ausführung: R. Svoboda & Co., um 1977)
© MAK

Mit seiner kritischen Auseinandersetzung mit Möbeln und ihrer Rolle im gesellschaftlichen Gefüge fand Stieg in Peter Noever – dem damaligen Geschäftsführer der auf Büromöbel spezialisierten Firma Svoboda und späteren Direktor des MAK – einen Partner, der seinen gesellschaftskritischen Ansätzen entgegenkam. Der 1977 für Svoboda entwickelte Bürotisch Initiative So basierte auf einer von Stieg bereits in den frühen 1970er Jahren konzipierten Zeichentischkombination mit mehreren beweglichen, in der Höhe abgestuften Tischplatten, die flexibel um einen zentralen Versorgungskern arrangiert werden konnten (Abb. 2). Welchen Stellenwert dieses innovative Möbelstück im Werk Stiegs einnimmt, lässt sich an dem künstlerischen Credo bemessen, das dieser in einer von der Firma Svoboda herausgegebenen Begleitpublikation zur Initiative So formulierte – und das er als Architekt, Ausstellungsmacher und Designer seit Mitte der siebziger Jahre bis zu seinem frühen Tod 1984 in sämtlichen Projekten kompromisslos umzusetzen versuchte: „Ästhetische Innovationen, die nur den Zweck haben, den Modezyklus zu beschleunigen und über Qualitätsminderung hinwegzutäuschen, sind lineare, quantitätsorientierte Designmethoden und deshalb nur noch so lange praktizierbar, bis allen Designprozessen das Bewußtsein zugrunde liegt, daß Architektur und Design eine soziale Rolle einzunehmen haben und somit auch Möglichkeiten sein können, Geschichte und Gesellschaft zu verändern. Dazu bedarf es allerdings auch Produzenten und Manager, die sich ihres Einflusses auf den sozialen Organismus bewußt sind und statt Profitstreben mehr Verantwortung zeigen.“

Robert Maria Stieg: Initiative So, Arbeitsplatz 11, 1973-77, Maxplatten (erneuert), Formholz, Stahlrohr (Ausführung: R. Svoboda & Co., um 1977) © MAK/Mayer

Robert Maria Stieg: Initiative So, Arbeitsplatz 11, 1973-77, Maxplatten (erneuert), Formholz, Stahlrohr
(Ausführung: R. Svoboda & Co., um 1977), Schenkung von Klaus Engelhorn
© MAK/Georg Mayer

Das kurze Statement macht deutlich, dass es dem Designer Stieg nicht darum ging, Produkte nur um einer vermeintlichen Innovation Willen „neu“ zu entwerfen; vielmehr versuchte er, an die gesellschaftliche Verantwortung von Architektur und Design zu erinnern und die Direktiven der Produktgestaltung grundlegend zu hinterfragen: Angesichts einer vorrangig von Kapitalinteressen geleiteten Warenproduktion wollte Stieg eine bestimmte – inhaltliche, technische und gestalterische – Qualität bei den Herstellern und Konzernmanagern wieder verbindlich machen; die grundlegende inhaltliche Diskussion mit den Produzenten war für ihn dabei ein substantieller und unentbehrlicher Bestandteil des Designprozesses. Zugleich zielten Stiegs eigene Projekte und Produkte effektiv auf die Veränderung der bestehenden Situation: Mit seinen Ausstellungen und Möbelobjekten richtete er sich gegen einen von Massenprodukten beherrschten und von der Werbeindustrie diktierten Zeitgeschmack; Publikum und Benutzern wollte er die Notwendigkeit vermitteln, sich zuallererst über das Diktat des Konsums hinwegzusetzen, um ihre eigenen Bedürfnisse formulieren und umsetzen zu können.

Auf Veranlassung von Peter Noever wurde die Initiative So – die dem Designer Stieg beispielhaft war „für ein Arbeitsmittel, das unmittelbar zur Veränderung der Arbeitsverhältnisse führt“ – bis zur Produktionsreife weiterentwickelt. Denn auch für Noever bedeutete Design damals „eine zentrale Kategorie zur Veränderung der Umwelt“. Und selbst wenn es nie zu einer wirklichen Serienfertigung der Initiative So in größerer Stückzahl kam, konnte Noever doch bewirken, dass der Entwurf weiter präzisiert, ästhetisch und inhaltlich ausformuliert, funktionell an die Anforderungen eines zeitgemäßen Büromöbels angepasst und eigens mit einer Werbekampagne ausgestattet wurde. So ist es wohl auch Noever zu verdanken, dass die Tischplatten mit zartgrünem Polystyrol beschichtet und das Stahlrohr mit rotem Schrumpfschlauch ummantelt wurden.

Mit ihren drei flexibel um den zentralen Versorgungskern mit Stromanschluss anzuordnenden Tischflächen wollte die Initiative So mit der Tradition von personengebundenen Einzeltischen brechen. Die drehbare Ordnerablage und Utensilientasse machte die Arbeitsgeräte und Kommunikationsmittel für mehrere Personen von verschiedenen Seiten aus bequem zugänglich: Gemeinsames Arbeiten, die spontane Bildung von Projektgruppen, die Verbesserung der zwischenmenschlichen Kommunikation, das gleichzeitige Arbeiten an verschiedenen Projekten, die Reduzierung ineffizienter Arbeitsteilung sowie der Abbau psychologischer Barrieren und hierarchischer Strukturen waren die erklärten Ziele.

In diesem Sinn lässt sich die Arbeitstischkombination Initiative So als Versuch deuten, aus den „engen Schreibtischgefängnissen“ auszubrechen, als die Peter Noever die zeitgenössischen Arbeitsplätze anlässlich eines von der Firma Svoboda 1975 veranstalteten Symposiums über „Gesundheit im Büro“ schlagwortartig bezeichnet hatte. Als Juniorchef des Svoboda-Konzerns hatte Noever bereits verschiedene Initiativen zur Verbesserung der Büroarbeitsbedingungen entwickelt und dabei immer wieder dem Gedanken Ausdruck gegeben, dass die Entfremdung von der Arbeit in den Büros offenbar am ehesten mit einer neuen Erlebnisqualität zu überwinden sei. Wirkliches „Wohlbefinden am Arbeitsplatz“ sei aber nur zu erreichen, so Noever, wenn sämtliche Faktoren „vom Führungsstil bis zum Sessel“ berücksichtigt würden. Entsprechend sah er in der Initiative So einen „Beitrag, der für bestimmte Tätigkeiten eine veränderte und neue Basis“ schaffe; eine „tiefgreifende Veränderung“ sei aber nur dann möglich, wenn nicht nur der Generaldirektor, sondern auch der einfache Büroarbeiter „Initiativen“ setzten könne. Die Initiative So plädierte damit auch für Arbeitsplätze, an denen sich die innerbetrieblichen Abläufe unbürokratischer und weniger hierarchisch, offener, spontaner, transparenter – und letztlich auch produktiver gestalteten.

Unberücksichtigt blieb dabei allerdings die Frage, ob eine solche Flexibilisierung der Bürostrukturen nicht eher den Zugriff der Arbeitgeber auf die Arbeitnehmer befördere: Aus heutiger Sicht hatte die nomadische „Arbeitsavantgarde“ der 1970er Jahre durchaus Anteil an der Kolonialisierung der Privatsphäre, die uns nicht nur das „Home Office“ mit seinen Vorzügen beschert hat, sondern auch die neoliberale Flexibilisierung von Arbeitszeiten und -orten. Als Stieg die Beschäftigung mit Büromöbeln zu Beginn der achtziger Jahre erneut aufnahm und zusammen mit seinem Kollegen Herbert Hammerschmied im Auftrag der Firma Bene Büromöbel die aufwendig recherchierte Broschüre Der Mischarbeitsplatz in der Rückschau zusammenstellte, ging er kurz auch auf das Projekt der Initiative So ein: Den Versuch des Projekts, an den Dogmen einer bürokratisch verwalteten Leistungsgesellschaft zu rütteln, sah er als gescheitert an. So schienen sich nur wenige Jahre nach der emphatisch geäußerten Utopie einer Verbesserung der Arbeitsbedingungen im Büro die Bedenken des Designers Achille Castiglioni zu bestätigen, der 1977 in einem Brief an Noever geschrieben hatte: „Ich glaube, daß diese von Euch vorgeschlagene ‚Art’, im Büro zu arbeiten, funktioniert: vorausgesetzt, es funktionieren die Köpfe – die bedauerlicherweise bürokratisch sind –, nicht nur die derjenigen, die diese ‚Art’ von Tätigkeit ausüben, sondern vor allem von jenen, unter deren Leitung diese Büroarbeit steht.“

Immerhin war es Noever 1977 aber gelungen, dem ORF unter Verwendung der Initiative So ein Konzept für die Neugestaltung der Nachrichtensendung „Zeit im Bild“ vorzuschlagen. Durch das Offenlegen der Produktionsbedingungen des Fernsehens sollte das Entstehen der Informationen für die Zuschauer damals durchschaubarer gemacht werden. Das Studio müsse als „Informationswerkstatt“ schon durch seine Einrichtung zur „Entmystifizierung der Nachrichtensendungen“ beitragen, forderte Noever: „Also: keine Altäre, keine Pulte, sondern ‚transparentes’ MOBILar. Das Studio-Design muß auch mit den kulturellen und gesellschaftlichen Ansprüchen der ZIB-2-Redaktion korrespondieren. Es muß eine in sich geschlossene Atmosphäre ausstrahlen und gleichzeitig ein hohes Maß an Flexibilität beinhalten, um den jeweils geänderten Anforderungen der Nachrichtensendung zu entsprechen.“ Der ORF kaufte zwar mehrere Exemplare der Initiative So an, in der Nachrichtensendung „ZIB 2“ wurden sie aber nur kurzzeitig verwendet, weil sich die Moderator*innen an ihren nunmehr transparenten Arbeitsplätzen ungeschützt fühlten. Bei dem Versuch einer De- und Neukonstruktion des österreichischen Fernsehens konnte die Initiative So daher nur in der satirischen Kult-Krimiserie Kottan ermittelt eine tragende Rolle spielen. In den beiden 1978 ausgestrahlten Folgen Wien Mitte und Nachttankstelle ermittelt der von Franz Buchrieser gespielte Polizeimajor Adolf Kottan tatsächlich an der von Robert Maria Stieg entworfenen Schreibtischkombination: Kein Wunder, dass die Serie heftige „Kontroversen über die Art der Darstellung der Polizeiarbeit hervorrief, vor allem seitens der Polizeigewerkschaft.“ So lässt sich als Fazit wohl nur ironisch anmerken: Weil es „kaan Inspektor“ gab, musste das „Ausbrechen aus den Schreibtischgefängnissen“ verhindert werden…

Ein Beitrag von Sebastian Hackenschmidt, Kustode MAK Sammlung Möbel und Holzarbeiten

Schreiben Sie einen Kommentar